Radtouren. Auf Französisch: balades à vélo. Fahrradballaden. Ein solches Wort hat mehr Poesie als die deutsche Entsprechung – und auch mehr epische Breite. Und genau darum geht es mir beim Radfahren: um Breite und Weite. Eine Fahrradballade geht meist vom Geschlossenen ins Offene. In der Regel beginnt sie in einem Kellerverschlag oder in einer Tiefgarage, deren Tore sich wie ein Theatervorhang öffnen, und ich rolle mit meinem Rennrad ins Freie, in eine Endlosigkeit an episch-topographischen Möglichkeiten. Eine solche Fahrradballade kann sich stunden-, wenn nicht sogar tagelang hinziehen, über Hunderte von Kilometern, im Taumel atemberaubender Abfahrten und Steigungen, bis man nicht mehr weiß, wo man ist – oder wer man eigentlich ist. Einen solchen Zustand gilt es anzustreben.
Man strebt ihn auf neuartigen Rennrädern an, Wunderwerke an Leichtigkeit und Technik. Oft weiß ich nicht mehr, wer hier eigentlich wen fährt, ob ich das Fahrrad fahre oder ob das Fahrrad nicht eher mich. Eigentlich will ich nach Hause, doch mein Rad fährt weiter und weiter. Es kann gar nicht anders aufgrund seiner filigranen Laufräder und seiner unglaublichen Leichtigkeit. Also fahren wir ins Unendliche, oben ich, unten das Fahrrad, Mischwesen aus Mensch und Technik. Wie die Zentauren in der griechischen Mythologie: unten Pferd und oben Mensch. Ununterscheidbar.
Radfahren ist eine fortlaufende Bewegung, die aber zunächst einer Beruhigung gleichkommt. Zumindest auf den ersten 20 Kilometern. Ich beginne mich zu beruhigen, aufzuatmen und durchzuatmen. Sogar der Pulsmesser zeigt diese Beruhigung an. Die Schmerzen, die Qualen kommen erst später.
Ein hohes Maß an Wahrheit begleitet jeden Radfahrer. Es existiert eine unmittelbare Evidenz an Stärke und Schwäche, und das schon am ersten Berg. Man bekommt genau das zurück, was man einem Berg an Wattzahlen und Kraft gibt. Das ist menschenfreundlicher als in vielen anderen Lebensbereichen. Ein Berg versteht uns am Ende besser als so mancher Mensch.
Schmerzen. Immer wieder ist die Rede von Schmerzen. Tim Krabbé beschreibt in seinem Radsportroman DAS RENNEN die Hebel der Gangschaltung als die Kruste auf einer Wunde und als letzte Form der Schmerzbekämpfung. Doch die Schmerzen sind am Ende weniger schlimm als im sonstigen Leben. Sie gehen wieder vorbei. Man fährt durch sie hindurch. Manchmal bewege ich mich im Schlussanstieg eines Alpenpasses nur noch zeitlupenhaft-torkelnd, in endlosen Qualbildern, Stoßlaute ausspuckend, um bereits in der nachfolgenden Abfahrt ein neuer Mensch zu sein. Ein neuer Mensch.
Joachim Zelter
wurde 1962 in Freiburg geboren. Er studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller. 2010 wurde er mit Der Ministerpräsident für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen von ihm erschienen Die Verabschiebung (2021), Professor Lear (2022) und Staffellauf (2024). Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den begehrten Preis der LiteraTourNord. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Deutschen PEN.