Schon früh habe ich Anaïs Nins Bücher aus dem Regal meiner Mutter stibitzt, neugierig auf die Frau, deren Namen ich bekommen habe. Nins Werke begleiteten meine ersten literarischen Auseinandersetzungen mit Lust und Erotik und dafür bin ich heute sehr dankbar.
Nin ist bekannt für ihre Tagebücher, die intime Einblicke in das Seelenleben einer klugen, jungen Frau in den 1920ern geben. Neben den Tagebüchern schrieb sie auch Erotika, poetisch und sinnlich – und setzte damit dem damaligen Male Gaze der erotischen Literatur etwas entgegen.
In der Essaysammlung Die neue Empfindsamkeit reflektiert Nin ihre Erfahrungen als Schriftstellerin von Erotika. Darin bekommen ihre Werke eine theoretische Einordnung, in der es Spaß macht, sie auf heutige Lesbarkeit von Queerness zu prüfen. An einer Stelle fragt sich Nin, ob die Frau der Zukunft, die weibliche Lust wohl zur Befreiung gebracht hat. Ich möchte ihr antworten, dass sie leider auch heute noch in den Köpfen vieler Frauen* unter männlicher Herrschaft steht. Und trotzdem: Queere Literatur ist meiner Meinung nach heute das, was Nin damals so mutig propagierte – denn sie erzählt von Begehren jenseits normativer Grenzen.
Lust ist bei Nin also ein Verhandlungsraum für sexuelle Befreiung. Ihre Sprache ist weder schamhaft noch versteckt, sondern Ausdruck von angstfreier Intelligenz, Neugier und künstlerischer Kraft. Sie entlarvt außerdem die Doppelstandards der Literaturwelt: Während Männern höchstens die vulgäre Wortwahl angekreidet wird, werden schreibende Frauen dagegen als ganze Person moralisch verurteilt.
Sabina, die Hauptfigur aus Nins Ein Spion der Liebe, wurde zum Beispiel von männlichen Kritikern als nymphoman gebrandmarkt – nur weil sie offen ihre Lust erforscht und die männlich gelesene Rolle genießt. Der Roman wurde als Pornografie abgetan, obwohl er in poetischer Sprache tief in die Innenwelt einer Frau eintaucht. Indem Nin diese Erzählungen mit dem Alltagsleben verbindet, schafft sie ein zutiefst feministisches Bewusstsein für die Verbindung von Sexualität, künstlerischem Ausdruck und Identität.
Nins Texte kreisen um Respekt, Konsens und Lust auf Augenhöhe. Sie wusste: Erotische Literatur von Männern berührt Frauen oft nicht, weil sie Lust als animalisch und vulgär degradieren. Nin ermutigt Frauen deshalb, ihre eigene Lust auch literarisch zu erforschen und sich nicht mit den auferlegten Narrativen zufriedenzugeben. Denn wenn Anaïs Nin eins beweist, dann ist es, dass Schreiben im Kampf der (weiblichen*) Selbsterkenntnis ein wichtiges Werkzeug sein kann. Sie betont in ihren Essays immer wieder, wie individuell das Empfinden der Lust sein kann und macht damit wiederum Lust, sich auf die Suche nach der eigenen zu begeben.
Auch Männer lädt Anaïs Nin in dem Kapitel Plädoyer für den empfindsamen Mann explizit dazu ein, die eigenen Konzepte von Lust und Männlichkeit zu hinterfragen. Sie verspricht, dass wenn Stärke und Schwäche fluide Eigenschaften sein dürfen, grundlegend neue, echte Beziehungen entstehen können. In jeder Zeile Nins schwingt die Sanftmut eines Humanismus, der das Potential hat, heutige Konzepte von toxischer Männlichkeit und weiblicher Selbstermächtigung zu vereinen – ohne den moralischen Zeigefinger.
Anaïs Nins Werke sind damit eine Einladung zur Neu-Entdeckung der Sinnlichkeit und ein Plädoyer für eine neue, lebendige Empfindsamkeit, die wir meiner Meinung nach heute dringender brauchen denn je.
Anaïs Lenuweit
war bis Januar 2025 Praktikantin im Literaturhaus Bremen. Vor etwa zehn Jahren zog sie aus einer Kleinstadt am Jadebusen nach Bremen – auf der Suche nach Großstadtluft, ohne die Nähe zur Nordsee zu verlieren. Schon damals liebte sie Bücher, allerdings nicht die, die mit Hochglanzcovern prahlen, sondern vergessene Schätze aus Bücherschränken oder Zu-Verschenken-Kisten. Ihre Sammlung umfasst geisteswissenschaftliche, künstlerische, philosophische und lyrische Werke, die von Kultur, Ideen und verborgenen Geheimnissen erzählen – manchmal findet man auch Einkaufszettel aus den 80ern. Seit 2020 studiert sie Kunst- und Kulturwissenschaften an der Uni Bremen und erkundet zunehmend die Gegenwartsliteratur.
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