Lust & Launen: Meeresklassikerinnen im mare-Verlag

Ist das Meer ein Symbol für weibliche Lust? Programmleiterin Judith Weber verrät mehr über die neuen Klassikerinnen im mare-Verlag, Lust und Launen und vier interessante Autorinnen. Im März ist sie in der Buchhandlung Albatros zu Gast. Ein Interview mit Pauline Adamek.

Hierbei handelt es sich um ein Portraitfoto von Judith Weber.
© Matthias Bothor

In der mare-Klassiker-Reihe veröffentlichen Sie dieses Frühjahr bewusst vier Texte von Autorinnen, die am und auf dem Meer spielen. Dabei wurde die Domäne Meer in der Literatur bisher größtenteils von männlichen Autoren erschlossen. Was machen Katherine Mansfield, Elinor Mordaunt, Carme Riera und Constance Fenimore Woolson anders als männliche Autoren, wenn sie über das Meer schreiben?

Ich denke, diese Frage kann man nicht ganz eindeutig klären, denn natürlich gibt es nicht nur das eine, spezifisch „männliche Schreiben“ über maritime Themen, genauso wenig, wie es nur eine Art des weiblichen Zugangs zum Meer oder dem Erzählen darüber gibt, und ich finde es wichtig, hier nicht zu sehr zu generalisieren. Aber wenn wir auf die Klassiker schauen, die einem zuallererst einfallen, wenn man an maritime Literatur denkt, dann sind dies oft Abenteuer- und Heldengeschichten voller raubeiniger, männlicher Protagonisten wie dem Seewolf, dem Piraten Long John Silver oder den Kapitänen Nemo und Ahab, und die wurden eben allesamt von männlichen Autoren verfasst. Da sind die Themen unserer vier „Klassikerinnen“ schon sehr andere: Katherine Mansfield nutzt in ihrer Erzählung In der Bucht das Meer z.B. als eine Art Spiegel, vor dem sie in der Betrachtung eines familiären Alltags weibliche Geschlechterrollen hinterfragt.

Constance Fenimore Woolson hat als Nordamerikanerin die Küsten Floridas bereist, bevor diese vom heutigen Massentourismus vereinnahmt wurden, und zeichnet in ihren Erzählungen mit großem psychologischem Gespür die Konflikte nach, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Begegnung der verschiedenen dort ansässigen Ethnien entstanden. Und Carme Rieras Protagonistinnen suchen im Meer eine letzte Zuflucht, wenn sie die Enge des gesellschaftlichen Korsetts des Franco-Regimes nicht mehr ertragen. Vergleicht man diese Stoffe, dann könnte man auf die Idee kommen, dass das Meer im Falle der männlichen Autoren häufig eine Art Abenteuerschauplatz ist, auf dem sich einzelne Individuen beweisen müssen, und im Falle der Schriftstellerinnen eher ein Spiegel größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge. Aber wie gesagt: Mit solchen Aussagen muss man natürlich vorsichtig sein, wenn man nur so wenige Stoffe miteinander vergleicht.

Mansfields, Rieras und Fenimore Woolsons Romane erzählen von Frauen – Elinor Mordaunts Protagonisten hingegen sind allesamt männlich. Wie passt Mordaunts Das Herz eines Schiffes trotzdem zu den anderen Texten, mit denen der Roman gemeinsam in der Reihe steht?

In meinen Augen stellen Elinor Mordaunts tolle, abenteuerliche und hochatmosphärische Erzählungen, die dann eben doch von meuternden Freibeutern und Geisterschiffen handeln, genau den wohltuenden Bruch dar, den meine These oben benötigt – jede Regel hat ihre Ausnahmen. Was ich an Mordaunts Erzählungen so faszinierend fand, war eben die Tatsache, dass auch eine Frau des 19. Jahrhunderts sich in der rauen maritimen Männerwelt auf See so gut auskennen und so souverän darüber schreiben konnte. Mordaunt ist als Reisejournalistin allein auf Schiffen um die Welt gereist und hat viel erlebt und gesehen, das merkt man ihren Erzählungen an. Wenn es einen Wettbewerb um das beste literarische Seemannsgarn gegeben hätte, bin ich nicht sicher, ob Mark Twain oder Robert Louis Stevenson eine Chance gegen sie gehabt hätten.

Nach welchen Kriterien haben Sie ausgerechnet diese vier Romane für die Reihe ausgesucht?

Mein erstes, offensichtliches Kriterium war natürlich, dass die Erzählungen von Frauen verfasst sein mussten, dass das Meer in ihnen eine große Rolle spielt und dass es sich eben nicht um zeitgenössische, sondern im weitesten Sinne „klassische“ Literatur handelt. Danach ging es mir vor allem darum, keine Bücher zu produzieren, die im Regal verstauben, sondern Texte zu finden, die man wirklich gern liest und aus denen man nebenbei noch etwas über die Zeit lernt, in der sie spielen. Ich glaube, das können alle vier Bände mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen.

Das Meer wird in der Literatur mit verschiedenen Motiven verbunden. Es steht für Freiheit, aber auch für Suizid (‚ins Wasser gehen‘) und – passend zur aktuellen Ausgabe unseres digitalen Literaturmagazins – für Erotik und Lust. Wird in den vier Romanen, die Sie im Albatros vorstellen werden, eine Verbindung zwischen dem Meer und (weiblicher) Lust hergestellt?

Dass Carme Rieras Heldinnen sich dem Meer anheimgeben, wenn sie sich im Leben nicht mehr aufgehoben fühlen, könnte man möglicherweise auch mit einer lustvollen Komponente in Verbindung bringen, auch wenn das wohl nicht die naheliegendste Interpretation ist – eher geht es hier ja um Flucht aus erdrückenden Lebenssituationen und den von Ihnen genannten Suizid.
Aber ausgerechnet Elinor Mordaunt, deren menschliche Protagonisten, wie gesagt, ausnahmslos männlich sind, stellt ein „weibliches“ Schiff ins Zentrum ihrer titelgebenden Erzählung Das Herz eines Schiffes. Die Sarah Shane wird von ihrer Mannschaft vergöttert wie eine Geliebte oder Mutter, hat aber einen höchst störrischen Charakter. Dieser zeigt sich, als sie sich ihrer Crew in sehr amüsant geschilderten Kapriolen widersetzt, weil sie sich in einen Schiffbrüchigen verliebt hat, der auf einer Handelsfahrt an Bord genommen wurde. Als dieser äußert, dass er einen anderen Hafen zum Ziel hat als die Besatzung des Schiffs, schlägt die Sarah Shane eigenmächtig die von ihm gewünschte Route ein, obwohl das allen Gesetzen von Wind und Wellen und natürlich auch allen Steuermanöver des verzweifelten Kapitäns widerspricht. 
Hier ist es also zwar nicht das Meer selbst, aber eben das mit ihm eng verbundene Schiff, das für weibliche Lust und Launen steht, denen die männliche Besatzung auf hoher See auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. 

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