Sara wird begehrt. Da ist der Busfahrer, der ihr immer, wenn sie ihre Fahrkarte vorzeigt, wie beiläufig über die Hand streicht. Da ist Pastor Dario und der Vater ihrer besten Freundin Rosa. Und Sara: Sie liebt Dario, der sie seinen Engel nennt, und Rosas Vater liebt sie auch. Sie lässt sich von ihnen ausziehen, anschauen, schläft mit ihnen. Das alles muss im Geheimen passieren – Dario ist verheiratet und Rosa würde Saras Liebe zu deren Vater nicht verstehen. Und da ist noch etwas, das für die Männer, von denen Sara begehrt wird, jedoch nicht zu zählen scheint: Sara ist erst dreizehn Jahre alt.
Cecilie Lind erzählt in Mädchentier davon, was es bedeutet, eine Frau zu werden – und eine Frau zu sein. Frau-Sein bedeutet für Sara: Lust bei Männern erzeugen zu können. Mit der Konfirmation gilt sie im christlichen Glauben als erwachsen: Dario, der sie gerade noch konfirmiert hat, kann sich nun nicht länger zurückhalten, mit ihr zu schlafen. Sara lernt: Begehrenswert sind Frauen, die jung und schön sind. Schön ist, wer dünn ist. Frauen sollen rein und unschuldig sein, geradezu puppenhaft. Ihre Geschlechtsorgane sind wie Süßigkeiten für Dario: “Deine Brustwarzen sind pastellfarben. Bonbons.” Wer also kann es ihm verdenken, dass er der Verlockung, von dieser Süßigkeit zu kosten, nicht widerstehen kann?
Sara verinnerlicht auch: Frauen sind Konkurrentinnen. Rosa und sie vermessen ihre Körper. Die Gleichung, die sie errechnen, lautet: Schmalere Hüften = schöner. Gleichzeitig sehnt sich Sara nach einer weiblichen Gemeinschaft. Doch suchen kann sie danach nicht, es ist schließlich nicht ihre Funktion als Frau, eine Freundin zu sein. Frauen sind dazu da, sich Männern zu fügen: Als Geliebte, als Gesprächspartnerin, die stets zu ihnen aufschaut, als Sexobjekt. In radikaler Weise reduziert Sara sich auf ihren Körper – und glaubt, selbst Profit daraus schlagen zu können. Wenn sie weiß, dass Männer sie begehren, begehrt sie sich selbst. Erst das Interesse der Männer, denkt sie, verleihe ihr das Recht, “geil zu sein”, Lust zu verspüren, sich von ihnen Befriedigung verschaffen zu lassen – und sich selbst zu befriedigen.
Mädchentier ist keinesfalls eine Geschichte über eine junge Frau, die sich über ihren Körper und ihr Bedürfnis nach Lust ermächtigt – und dabei die Grenzen des gesellschaftlich Anerkannten auslotet. Der Roman handelt von einer Heranwachsenden, die an der Schwelle steht, ihrer Kindheit zu entwachsen und nun versucht, ihren Platz in einer Welt zu finden, in der ihr zwei Optionen vorgeschlagen werden: "Ich war zum merkwürdigsten Ort geschleppt worden, von der Zeit, wo ich alles sein konnte. Wo ich Kleines Mädchen /Junge Dame sein konnte. Unschuld / Falle."
Pauline Adamek
MÄDCHENTIER | Cecilie Lind | März | Berlin 2025 | 201 S. | € 24,00