Satzwende: Katja Oskamp (1/2)

Ein Wandbild eines bunten Vogels.
© Rike Oehlerking

Die Lust am Lustverlust

Von Katja Oskamp

In ihrer frühen Jugend wurde Mieze Miezelschmidt von der Lust gepackt wie von einem Raubvogel. Sie hüpfte durch die Betten, flirtete und flunkerte, säuselte und seufzte, jauchzte und schluchzte, getrieben von einem sportlichen Erfahrungshunger. Das ging ein paar Jahre so, doch bald fand Mieze die Liebe, und die Lust heftete sich von nun an treu an den, den sie liebte. Wenn die Lust sich verkrümelte, ahnte Mieze, dass auch mit der Liebe etwas nicht mehr stimmte. 

 

Als ihr das zum zweiten Mal passierte, hielt sie alles, um es zu erforschen, schriftlich fest. Später druckte das jemand, und Mieze Miezelschmidt lebte weiter und liebte weiter und schrieb weiter, und im Abstand einiger Jahre veröffentlichte sie ihre Forschungsergebnisse in Buchform. 

Während Mieze das vierte Lebensjahrzehnt absolvierte, mauserte die Lust sich zu einem großen Papagei, der bunt schillerte und das Gefieder spreizte. Das lag möglicherweise an Miezes erworbenem Erfahrungsreichtum, vielleicht auch an dem Geliebten, mit dem sie jene Jahre verbrachte. Wieder schrieb Mieze Miezelschmidt darüber, und wie immer waren neben allen anderen die körperlichen Vergnügungen Gegenstand der Untersuchung. Es kamen Sexszenen vor. 


Vermutlich brachte das die Redakteurin eines Literaturmagazins auf die Idee, Mieze Miezelschmidt könnte eine Kolumne zum Thema Lust verfassen. Mieze hatte während des Telefonats noch matt widersprochen, sich aber mit dem zugegebenermaßen öden Gegenvorschlag Nach Hause nicht durchsetzen können. 

Die Wahrheit war: Mieze Miezelschmidt sollte über die Lust schreiben, aber sie hatte keine Lust mehr. Von all dem Leben, Lieben und Schreiben war sie träge geworden, mehr noch, sie hatte sich in eine dicke alte Katze verwandelt. Sie befand sich mitten im sechsten Lebensjahrzehnt und hieß auch gar nicht mehr Mieze Miezelschmidt, sondern seit einiger Zeit und aus gegebenem Anlass Schnurranda Pummelich. 


Katja Oskamp
© Mathias Bothor

Katja Oskamp

geb. 1970 in Leipzig, ist in Berlin aufgewachsen. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft arbeitete sie als Dramaturgin am Volkstheater Rostock und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2004 veröffentlichte sie als Debüt ihren Erzählungsband Halbschwimmer, es folgten die Romane Die Staubfängerin und Hellersdorfer Perle. 2019 erschien bei Hanser Berlin Marzahn, mon amour. Für die englische Ausgabe des Bestseller-Romans erhielt Oskamp 2023 zusammen mit der Übersetzerin den Dublin Literary Award, den höchst dotierten europäischen Literaturpreis, der für ein einzelnes Werk vergeben wird. 

Zum Autor*innenprofil von Katja Oskamp

Katja Oskamp liest im Rahmen der Lesereihe Satzwende am 20. März in der Bremer Shakespeare Company.

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