Am 17. September kommt Simoné Goldschmidt-Lechner auf Einladung des [virt.] Literaturhauses für die Reihe queer.lit! nach Bremen. Ende Februar ist im Verbrecher-Verlag Nerd Girl Magic erschienen, in dem sich die Autorin, ausgehend von persönlichen Erfahrungen seit der Kindheit, der Nerd und Geek Culture aus nicht-weißer, nicht-männlicher Perspektive widmet. Im Gespräch mit Janin Rominger (der Projektleitung von queer.lit!) geht es um Fanfiction – und was das mit unserem Monatsthema Lust zu tun hat!
Liebe Simoné, ein Kapitel in Nerd Girl Magic heißt "Fandoms, Fanfictions und Queer Awakenings" – und darum soll es in diesem Interview gehen. Du schreibst, "Das Internet der frühen 2000er ist der Wilde Westen der freien Meinungsäußerung, für Nerds und Geeks und deren Hobbys und Wissenserwerb im Allgemeinen. Was als hoffnungsvolle Utopie des Wissensaustausches angepriesen wird, entpuppt sich schnell vor allem als Austauschplattform für Pornographie jeglicher Couleur. Fanfiction zählt auch dazu, aber erfüllt andere Bedürfnisse." Wieso zählst du Fanfiction zu Pornographie und welche Bedürfnisse kann Fanfiction erfüllen? Ist Fanfiction per se spicy?
Es kommt darauf an, wie man Pornographie definiert – ich werde jetzt nicht Etymologie bemühen, die im Pornographischen ursprünglich die “niedergeschriebene Prostitution” (wobei auch Prostitution relativ zu der damaligen Zeit zu sehen ist), meint. Fanfiction ist auf mehreren Ebenen die Überspitzung von Geschichten in eine gewisse Obszönität. Das kann, muss aber nicht, sexuell gemeint sein. Fanfiction ist erstmal ganz grundsätzlich das Weiterschreiben bzw. -imaginieren einer Geschichte. Spicy ist sie aber meistens. Das moderne Romantasy-Genre liest sich aus meiner Sicht sehr wie Fanfiction, und ist wohl auch deswegen so beliebt. Es hat eine gewisse Freiheit, die Figuren in ihrer Subjekthaftigkeit auch wieder zu Objekten zu machen. Das klingt jetzt viel zu akademisch; ich meine damit: Anything goes. Kein Plot ist zu abwegig. Drachen werden horny, also werden die Dragon Riders horny? Go for it. Die Fae haben massive Geschlechtsteile und ihre Flügel sind erogene Zonen? Go for it. Und das Krasse ist, dass es insbesondere eine weiblich konnotierte sexuelle Lust bedient. Dadurch, dass es nicht visuell ist, ist es weniger sichtbar. Das Lesen ist privater. Die Vorstellung damit auch.
Was leistet Fanfiction, was das Original nicht kann?
Geschichten sind begrenzt, wenn sie vermarktet werden. Das liegt in der Natur der Sache, in der Logik eines vom Kapital bestimmten Systems. Fanfiction braucht keine klassischen Produktionsmechanismen. Jede Person kann sie schreiben, jede sie lesen; niemand bestimmt, was „wertvoll“ ist, was nicht. Das ermöglicht eine viel größere Bandbreite an Geschichten!
Wer schreibt Fanfiction?
In erster Linie nach wie vor FLINTA* und manchmal auch homosexuelle cis-Männer. Heterosexuelle Männer gibt es auch, sie bilden aber die Minderheit. Insofern ist es ein sehr female (presenting) dominated space. Es gibt übrigens viele ace Personen, die spicy Fanfiction schreiben.
Falls du das teilen magst: Hast du selbst auch mal Fanfiction geschrieben und online veröffentlicht?
Ha! Ja, ich habe auch Fanfiction geschrieben. Früher zu Heroes, einmal vor nicht allzu langer Zeit zu einer recht bekannten Fantasy-Serie, und dann vor gar nicht allzu langer Zeit zu einer Gangster-Serie. Wenn meine Bücher so populär wären wie meine Fanfiction, hätte ich auf jeden Fall ausgesorgt.
Mehrere sehr beliebte Fanfictions der späten 00er und frühen 2010er Jahre wurden in eigene Universen übersetzt und von Verlagen veröffentlicht und verfilmt.
Das berühmteste Beispiel ist wohl Fifty Shades of Grey, das auf einer Twilight-Fanfiction basiert. Außerdem fallen mir spontan The City of Bones (Harry Potter) und After (One Direction bzw. Harry Styles) ein.
Ja, und man munkelt, dass Twilight wiederum auch Fanfiction sei. Aber natürlich in erster Linie mormonische. Ich vermute wie gesagt, dass einige der populären Romantasy-Reihen als Fanfiction angefangen haben. Und auch die „Dark Romance“-Kategorie.
After und Fifty Shades of Grey, aber auch City of Bones, haben alle ein Pacing-Problem. Das ist teilweise wirklich schwierig. Von den problematischen Beziehungen abgesehen.
Was ist mit populärer Fanfiction mit queeren Pairings?
Diese sind sehr populär, wobei in erster Linie immer noch, wenn man sich zum Beispiel auf Archive of our Own bzw. AO3, einem der größten Fanfiction-Archive, die populärsten Pairings ansieht, vor allem cis-Männer miteinander geshipped werden, und dann vor allem weiße oder ostasiatische Männer.
Schwarze und andere PoC-Männer so gut wie gar nicht, und die ostasiatischen Männer werden innerhalb eines ostasiatischen Kontextes gesetzt, so dass die PoC-ness dann dort nicht vorhanden ist. Es gibt aber auch zunehmend lesbische ships! Vor allem nach Serien wie Arcane, der Neuversion von She-Ra etc., in denen diese Canon sind.
Du hältst fest, dass "Fanfiction eine Art allumfassender Befreiungsschlag von gesellschaftlichen romantischen und sexuellen Normen [ist]."
Ja, in Fanfiction lässt sich einfach wahnsinnig viel ausprobieren. M-preg, um nur eine Sache zu nennen. Man kann selbst romantische und sexuelle Kategorien ausprobieren, verstehen, was zum Beispiel die eigene Queerness bedeutet. Niemand kontrolliert, was man wie ausprobieren kann, auch Traumatisches kann verarbeitet werden.
Letzte Frage: Welche drei Fanfictions würdest du unseren Leser*innen empfehlen?
Das ist so speziell und kommt auf die eigenen Bedürfnisse an! Wollt ihr lieber Fluff, Hurt-Comfort, lieber Friends to Lovers oder Enemies to Lovers, und mit welchem Pairing am liebsten? Am besten ist es wohl, die Fanfiction-Foren nach den eigenen Vorlieben zu durchforsten. AO3 würde ich eher empfehlen als WattPad (dort sind Autor*innen als auch Zielpublikum noch wesentlich jünger, das heißt, da Fanfiction auch Interaktion mit anderen Fans bedeuten kann, muss man hier gut darauf achten, mit wem man spricht – ich selbst war auch viel zu früh in Fanfiction-Foren unterwegs). Ich würde vorschlagen, euer Lieblingspairing einfach auf AO3 einzugeben und ein paar Einschränkungen auf der Taskleiste nach euren Präferenzen vorzunehmen.
Vielen Dank, Simoné – und bis bald in Bremen!
Simoné Goldschmidt-Lechner
schreibt, übersetzt, interessiert sich für (queere) Fandoms online, Horror aus postmigrantischer Perspektive, Sprache in Videospielen und sprachlich Experimentelles. Seit 2022 ist sie Teil verschiedener Theater-, Performance- sowie Filmprojekte. Sie gibt das Literaturmagazin process*in mit heraus. 2022 erschien der Debütroman Messer, Zungen, 2024 das zweisprachige Buch Ich kann dich noch sehen (an diesen Tagen), das mit dem Preis für das Buch des Jahres der Hamburger Literaturpreise ausgezeichnet wurde. Sie hat Übersetzungen u. a. von Against White Feminism von Rafia Zakaria (2022), Exponiert von Olivia Sudjic (2023) und Good Talk von Mira Jacob (2022) erstellt.