Ein wichtiges und kein einfaches Thema – Gewalt. Trotzdem gibt es großartige Sachbücher und spannende Geschichten. Ob in Ostdeutschland in der Zeit nach der Wende oder Gewalt in einer queeren Beziehung. Unsere Lesetipps im April sind sind fesselnd, außergewöhnlich und haben uns aus unterschiedlichen Gründen begeistert. Lies selbst!
Lina Großhans: In Das Archiv der Träume gelingt es Carmen Maria Machado, sich auf eine intensive und ehrliche Weise dem Tabuthema der Gewalt in queeren Beziehungen zu nähern. Die Autorin setzt sich in ihren autofiktionalen Memoiren detailliert mit der eigenen Vergangenheit auseinander und seziert schonungslos eine frühere Beziehung, in der sie emotional, mental und physisch missbraucht wurde.
Dabei analysiert sie nicht nur die Entstehung und Dynamik dieses sehr persönlichen Erlebnisses, sondern hinterfragt auch gesellschaftliche Stereotype und setzt Bezüge zu popkulturellen Aspekten. Das Ergebnis ist ein einzigartiges und experimentelles Buch: Die einzelnen Kapitel eröffnen nicht nur jedes Mal eine neue Perspektive auf die toxische Beziehung der beiden Protagonistinnen, sondern springen gleichzeitig auch zwischen verschiedenen literarischen Formen hin und her. Gespensterhaus, Bildungsroman, Sci-Fi-Thriller und Märchen sind nur einige der Genres, mit denen Machado spielt.
Ein vielschichtiges und mutiges Werk, das ebenso verstört wie beeindruckt – und lange nachhallt.
Pauline Adamek: In ihrem jüngsten Roman Die Möglichkeit von Glück erzählt Anne Rabe vom Aufwachsen in Ostdeutschland in der Nachwendezeit. Und davon, sich mit der Geschichte der eigenen Familie auseinanderzusetzen.
Eine kleine Stadt an der Ostsee, von der Wohnung der Großeltern der Erzählerin sind es nur wenige Meter bis zum Strand. An diesem Ort, wo Familien ihren Sommerurlaub verbringen und die Altstadt von Besucher*innen für ihre gotischen Backsteinbauten bewundert wird, ist die Erzählerin aufgewachsen. Sie jedoch ist bei erster Gelegenheit aus dieser vermeintlichen Idylle geflohen und kehrt nur selten zurück. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, zu zerrüttet das Verhältnis zu ihrer Mutter. Erst die Geburt ihrer Tochter ruft in der Erzählerin den Wunsch wach, sich erinnern zu wollen. Und so beginnt sie, Fragen zu stellen und zu recherchieren, um ihre eigene und die der Verdrängung preisgegebene Vergangenheit ihrer Familie freizulegen. Zum Vorschein kommt: Gewalt, wohin das Auge reicht. Die Gewalt, die der 1942 zur Wehrmacht eingezogene Opa Paul selbst ausgeübt und erfahren hat, als er an die Ostfront nach Stalingrad geschickt wurde. Die Gewalt, die sich in der DDR und an der innerdeutschen Grenze abgespielt hat und die von Gegner*innen der DDR angeprangert wird. Die Gewalt der “Baseballschlägerjahre”. Und schließlich die Gewalt, die die Mutter der Erzählerin an ihren beiden Kindern verübt hat. Die erfahrene Gewalt hat Spuren hinterlassen. Seelische Spuren, die nicht sichtbar sind, aber auch Narben verheilter Wunden, eingeschrieben auf ihren Körper, die die Erzählerin sich als Jugendliche selbst zugefügt hat.
Die Möglichkeit von Glück ist ein eindrückliches gesellschaftliches Panorama, in dem nicht nur die Kontinuität verschiedenster Formen von Gewalt nachvollzogen wird, die in alle Lebensbereiche der Figuren einzudringen scheinen. Aufgeworfen wird auch die Frage, wie dieser alles einnehmenden Gewalt und den aus ihr resultierenden individuellen und kollektiven Traumata begegnet werden kann. Hat die Möglichkeit auf Glück, wer sich mit ihr auseinandersetzt oder sie negiert, um “jede Verletzung, jedes Unbehagen zu vermeiden”?
DIE MÖGLICHKEIT VON GLÜCK | Anne Rabe | ROMAN Klett - Cotta| Stuttgart 2023 | 384 S. | €24,00
Janin Rominger: „Die Gesellschaft sagt also Frauen auf unterschiedlichste Weise, eines ihrer wichtigsten Ziele im Leben sei es, den richtigen Partner oder Ehemann zu finden – den Menschen, der sie statistisch gesehen am wahrscheinlichsten töten wird.“
Als Leser*in von Die stille Gewalt von Asha Hedayati wird man nicht geschont; direkt auf der ersten Seite des ersten Kapitels steht dieser Satz. Nach dem berühmten Zitat „Das Private ist politisch“ von Carol Hanisch (US-amerikanische Feministin der zweiten Welle) untersucht Asha Hedayati die Strukturen der Gewalt gegen Frauen und wie unterschiedliche deutsche Institutionen diese Gewalt begünstigen und mitunter sogar (so eine These von Asha Hedayati) proaktiv fördern.
Asha Hedayati, die seit mehr als zehn Jahren als Anwältin für Familienrecht in Berlin arbeitet, verknüpft in Die stille Gewalt die Realitäten ihrer Klientinnen mit den Statistiken zur Partnerschaftsgewalt; darüber hinaus lässt sie ihre eigene Erfahrung als Anwältin vor Gericht einfließen. So wird nicht nur beleuchtet, wie man als Frau Gewalt erfährt, sondern Asha Hedayati folgt einem intersektionalen Ansatz: Sie zeigt auf, wie man als geflüchtete Frau, als Frau of Colour, als Mutter, als arme Frau in Deutschland struktureller Gewalt ausgesetzt ist.
Die stille Gewalt eignet sich für alle Leser*innen, unabhängig davon, wie ausgeprägt der eigene Feminismus bereits ist. Denn auch wenn es schmerzt dieses Buch zu lesen, müssen wir uns als Gesellschaft dieser Thematik stellen und uns muss bewusst sein, wie die Realität vieler Frauen (mindestens jede vierte Frau erlebt einmal in ihrem Leben Gewalt in der Partnerschaft) aussieht. Denn, so Asha Hedayati: „Solange es keine echte Gleichberechtigung und Gleichstellung gibt, wird es Gewalt gegen Frauen geben.“
DIE STILLE GEWALT | Asha Hedayati | Rowohlt | Hamburg 2023 | 192 S. | € 18,00
Annika Depping: Eine Frau ohne Obdach, eine unverheiratete Schwangere, ein Aktmodell, eine Tagediebin – die (Frauen-)Figuren in den Erzählungen von Ásta Sigurðardóttir aus der Mitte des 20sten Jahrhunderts stehen am Rande der Gesellschaft. Sie trinken, sind feindlichen Blicken ausgesetzt und nicht selten auch Gewalt. Viele prägt ein kompletter Realitätsverlust: Ihre destruktive Welt, die ihnen im Kleinen viel Schönes offenbart, können sie nicht mit der normierten gutbürgerlichen Gesellschaft in Einklang bringen. Dass genau dort, hinter der sauberen Fassade, viel Boshaftigkeit verborgen ist, sowohl strukturell als auch individuell, weiß Sigurðardóttir gekonnt zu erzählen und stieß damit ihrem damaligen Lesepublikum vor den Kopf. Der Band Streichhölzer aus dem Guggolz Verlag macht dreizehn Erzählungen der aufsehenerregenden isländischen Autorin (1930-1971) nun erstmals auf Deutsch zugänglich. Wegen des entlarvenden Blicks der Autorin, der kraftvollen Erzählstimme und der klugen Konstruktion des Bandes haben uns Leser*innen die Erzählungen auch heute noch viel zu sagen.
STREICHHÖLZER. | Ásta Sigurðardóttir | Übersetzung: Tina Flecken | ERZÄHLUNGEN Guggolz Verlag | Berlin 2025. 221 S. | €24,00.