In ihren Schreibwerkstätten im frauenzimmer hat Autorin Angelika Sinn wohnungslose Frauen kennengelernt - aus ihren Geschichten ist das Buch Keine Bleibe entstanden. Im Interview mit Anaïs Lenuweit erzählt sie mehr über Vorurteile, gesellschaftliche Ungleichheit und darüber, wie wichtig es ist, sich eigene Privilegien bewusst zu machen.
Liebe Frau Sinn, Sie arbeiten seit vielen Jahren ehrenamtlich mit wohnungslosen Frauen. Was war der entscheidende Moment, an dem Sie gespürt haben: Diese Geschichten müssen erzählt werden?
Einen alles entscheidenden Moment hat es so nicht gegeben, vielmehr hat sich die Idee dazu langsam entwickelt. 2021 habe ich mit Unterstützung des Literaturkontors im frauenzimmer (dem Bremer Treff für wohnungslose und andere in Not geratene Frauen der Inneren Mission) eine Schreibwerkstatt für die Besucherinnen eingerichtet. Die Frauen haben dort über ihre Lebenswelt, ihre Träume, Hoffnungen und Ziele geschrieben, und es sind sehr berührende Texte entstanden. Oft haben wir an diesen Nachmittagen auch über ihre Vergangenheit gesprochen, über das, was sie erlebt haben, was ihnen widerfahren ist. Darüber wollte ich mehr erfahren. Sie alle haben unterschiedliche Schicksale, aber es gibt auch viele Überschneidungen. Das wollte ich erzählen.
Sie bezeichneten sich im Podcast des Literaturkontors selbst als ein „Sprachrohr“ dieser Frauen. Wie sind Sie mit der Gratwanderung umgegangen, diese Geschichten authentisch wiederzugeben, ohne sie durch Ihre eigene Perspektive zu überformen?
Das, was die Frauen erzählen, kommentiere und interpretiere ich in dem Buch nicht oder zumindest kaum. Natürlich ist schon die Auswahl dessen, was ich aus der Menge an aufgezeichnetem Material herausgepickt habe, richtungsweisend. Ich glaube, das lässt sich nicht verhindern. Und ich wollte durch das Buch ja auch auf Missstände aufmerksam machen, exemplarisch erzählen. Zudem habe ich die Sprache natürlich glätten müssen, so wie es ja mit allen aufgezeichneten Gesprächen passieren muss. Ich habe mich bemüht, den Ton der Frauen authentisch wiederzugeben und hoffe, dass es mir gelungen ist.
Wichtig war mir zudem, dass die Frauen ihre Geschichten vor der Veröffentlichung autorisieren, sie sollten hinter allem 100%ig stehen und sich nicht nur in den Geschichten wiederfinden, sondern sagen können: Ja, so war es, das ist meine Geschichte.
Wie haben die Gespräche mit den Frauen Ihren eigenen Blick auf Sicherheit, Heimat und soziale Zugehörigkeit verändert?
Im Kontakt mit den Frauen ist mir noch mal deutlichgeworden, wie existentiell es für Menschen ist, ein Dach über dem Kopf zu haben, eigene vier Wände und eine Tür, die sie hinter sich schließen können. Mit dem Verlust der Wohnung, ihrem Heim, verlieren Menschen Sicherheit, ihr Selbstbewusstsein und oft auch ihre Würde. In seinem Buch Die dritte Haut beschreibt Dieter Funke sehr eindrücklich, wie eng Menschen mit ihrer Wohnung verknüpft sind, dass sie eben, nach der Kleidung, unsere „dritte Haut“ bildet. Ich finde, diese Metapher sagt alles.
Als ich durch die Arbeit an dem Buch noch tiefer in die Geschichten der Frauen eingetaucht bin, wurde mir zudem klar, dass alle von mir interviewten Frauen in ihrer Kindheit und Jugend keine oder nicht genügend Sicherheit und Zugehörigkeit finden konnten, sondern im Gegenteil Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch erfahren mussten. Das zog sich dann wie ein roter Faden durch ihr Leben, viele von ihnen gerieten in missbräuchliche und gewalttätige Partnerschaften, wurden ausgebeutet und betrogen. Über das Ausmaß war ich überrascht und entsetzt.
Viele Menschen sehen Wohnungslosigkeit als individuelles Schicksal statt als gesellschaftliches Problem. Welche falschen Annahmen über obdachlose Frauen begegnen Ihnen besonders häufig?
Genau das! – viele glauben, die Frauen seien selbst schuld an ihrer Wohnungslosigkeit.
Zudem wird oft fälschlicherweise angenommen, wohnungslose Frauen wären auf den ersten Blick zu erkennen, weil sie verwahrlost seien. Das stimmt aber in den meisten Fällen nicht. Die Frauen achten auf ihr Äußeres und sind oft überhaupt nicht als Wohnungslose zu erkennen.
Ein weiteres Vorurteil ist, dass alle wohnungslosen Frauen entweder alkoholabhängig oder drogensüchtig seien oder beides. Aber das trifft auf viele gar nicht zu. Psychische Probleme haben wohnungslose Frauen oft und auch Psychiatrieerfahrung – aber auch nicht alle.
Ihr Buch zeigt eindrücklich, dass Wohnungslosigkeit oft das Ergebnis von Gewalt, Ausbeutung und struktureller Benachteiligung ist. Inwiefern kann das Bewusstmachen eigener Privilegien dazu beitragen, solche Mechanismen zu hinterfragen oder sogar zu durchbrechen?
Ich habe bisher schon häufig die Rückmeldung erhalten, dass sich nach der Lektüre von Keine Bleibe nicht nur der Blick auf wohnungslose Personen, sondern auch der auf das eigene Leben verändert hat. Ohne Gewalt und Missbrauch aufgewachsen zu sein, in einigermaßen sozial und finanziell stabilen Familienverhältnissen, nicht unter Ausbeutung zu leiden, sondern ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, ist ein großes Privileg – und oft auch einfach Glück!
Sich das immer wieder klarzumachen, ist meiner Meinung nach wichtig. Und auch, sich nicht darauf auszuruhen.
Wichtig auch, diejenigen zu sehen, denen es nicht so gut ergangen ist oder ergeht und sich klarzumachen, dass die strukturellen Verhältnisse unserer Gesellschaft Ungleichheit fördern und dazu beitragen, dass Menschen sich in sehr unterschiedlichen Lebensverhältnissen befinden,
Nach dem Hinterfragen kommt dann im besten Falle natürlich das Durchbrechen dieser Mechanismen – ob das immer gelingt, bleibt die Frage. Wenn, dann durch Engagement und politische Einmischung und durch Empowerment für die Sache, die einem am Herzen liegt.
Vielen Dank für das Interview!
Angelika Sinn
geboren in Iserlohn, lebt und arbeitet in Worpswede und Bremen als freischaffende Autorin, Künstlerin und Referentin für Literarisches Schreiben. Sie studierte Pädagogik, Literatur- und Kulturwissenschaft in Bremen und Frankfurt/Main. Arbeitete mehrere Jahre als Kulturpädagogin und Journalistin. Autorin seit 1998, diverse Veröffentlichungen. Seit 2005 ist Angelika Sinn als Text-Künstlerin tätig, internationale Ausstellungsbeteiligungen. Von 2006 bis 2018 war sie Geschäftsführerin des Bremer Literaturkontors. Angelika Sinn ist Mitglied im Verband Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller.
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