Bildung ohne Bücher

Für Sadaf Zahedi ist Bildung der Schlüssel zum Glück. Mit ihrem Projekt Bildung ohne Bücher möchte sie mit solarbetriebenen MP3-Playern Wissen in Form von Geschichten zu Kindern in der ganzen Welt bringen. Im Interview mit Annika Depping hat sie mehr über das Konzept und ihre Hoffnung auf eine bessere Welt erzählt.

Sadaf Zahedi schaut in die Kamera.
© Das Goldkind Fotografie Berlin

Sadaf, wie ist es losgegangen mit Bildung ohne Bücher?

Als Kind habe ich immer gesagt, wenn ich mal erwachsen bin, möchte ich eine Stiftung gründen. Jedoch habe ich festgestellt, dass das wirklich viel Bürokratie ist. Trotzdem wollte ich etwas Sinnvolles machen, mich für Kinder- und Frauenrechte stark machen. Denn für mich hängt alles zusammen: Dass es so viel Gewalt auf unserer Welt gibt, hängt damit zusammen, dass es an Bildung fehlt. Bildung ist meines Erachtens der Schlüssel zum Glück. Bildung ermöglicht Gewaltprävention. Aber in vielen Ländern müssen Kinder schon sehr früh anfangen, auf dem Acker zu arbeiten. Da sind keine Schulbesuche möglich. In meiner Heimat Afghanistan ist ja für Kinder ab der 6. Klasse, Mädchen, auch noch ein Schulverbot ausgesprochen worden.

 Ich habe mich gefragt: Was passiert in den nächsten 20, 30 Jahren, wenn diese Menschen keine Bildungsversorgung haben? Der Mensch ist ja wie ein weißes Blatt Papier. Kinder machen unbewusst das nach, was sie bei ihren Eltern sehen. Wie können sie es besser machen als ihre Eltern, wenn sie gar keine Möglichkeiten haben, zu erfahren, dass es anders geht? So wird man nie Armut bekämpfen, soziale Diskrepanzen verändern oder Gewalt beseitigen können. Dann bin ich mit einem Hamburger Ingenieur auf die Idee gekommen, dass man Bildung über das kognitive Hören vermitteln kann.

Wie genau kann man sich das vorstellen?

Meine Töchter sind drei und fünf Jahre alt, sie können noch gar nicht lesen und schreiben. Aber meine Kinder können sprechen. Und das haben sie ja nur durchs Hören gelernt. Kinder sind so unfassbar intelligent und wir unterschätzen das! Was würde also passieren, wenn ich ein Kind, das unter Analphabetismus leidet, nur durch das kognitive Hören, Bildung vermittle? Das wollte ich ausprobieren und so bin ich auf die Idee gekommen, ein Kinderhörbuch zu schreiben. Dieses Hörbuch haben wir auf zehn Jahre gesplittet, die Kinder werden also über zehn Jahre mit Bildung versorgt. Momentan sind ungefähr vier Sprachstunden für Kinder im fünften Lebensjahr aufgezeichnet. Dafür gehen wir mit ehrenamtlichen Sprecher*innen ins Hörstudio. Insgesamt arbeiten wir mit acht Sprachen, in die mein Text übersetzt wird.


„Bildung ist meines Erachtens der Schlüssel zum Glück.“


Was genau bekommen die Kinder denn im Hörspiel zu hören?

Es geht um vier Tiere, die auf Weltreise gehen und den Baum des Wissens suchen, weil sie die klügsten Tierkinder der Welt werden wollen. Während ihrer Reise begegnen sie vielen anderen Tieren und erleben Abenteuer. Die Hauptfiguren sind ganz unterschiedliche Tiere, die für unterschiedliche Menschen und Kulturen und Hautfarben stehen. So lernen Kinder, respektvoll mit anderen umzugehen. Die Geschichte beginnt mit dem ersten Satz: „Geschichten werden nicht geschrieben, um Helden darzustellen, sondern um Neue zu erschaffen.“ Daran glaube ich ganz fest, dass jedes Kind ein Held ist und selbst Entscheidung treffen kann.

Was lernen die Kinder noch?

Zwischen den Erzählungen sind Lerneinheiten eingebaut. Zum Beispiel erklärt sich die Sonne aus der Ich-Perspektive kindgerecht selbst – was ist ihre Funktion? Wir haben auch das Alphabet in den jeweiligen Muttersprachen eingebaut, sodass die Kinder lernen, ihren Namen zu buchstabieren. Außerdem lernen sie das Rechnen, spielerisch und ohne dass sie Zahlen kennen müssen. Darauf bin ich richtig stolz, weil es meine Idee war, diese Lerneinheiten einzubauen. 

Wie toll! Das heißt, es gelingt innerhalb von vier Stunden, dass die Kinder das lernen?

Das gelingt mit dem Hörbuch von vier Stunden, ja. Die Kinder haben ein Jahr lang Zeit, das immer wieder zu hören. Wir Erwachsenen denken immer sehr kompliziert und sehr weit. Eigentlich muss man nur auf die Augenhöhe der Kinder gehen. Wenn man beginnt, die Welt durch Kinderaugen zu sehen, dann ist ganz vieles ganz simpel. 

Das Logo zeigt einen Vogel mit Kopfhörern.

Wie kommen denn die Hörbücher zu den Kindern?

Ich fliege dieses Jahr nach Afghanistan, um das Projekt einzuführen. Für mich bedeutet das, dass ich zum ersten Mal in meine Heimat reise, seit ich mit drei Jahren aus Afghanistan geflohen bin. Ich bringe die MP3-Player mit, die mit Solarplatten (aus umweltfreundlichem Kunststoff) betrieben werden. Mit den Platten können drei Player binnen einer Stunde geladen werden. Diese Player sind wasserfest, damit sie im Regen nicht kaputt gehen. Alle sollen außerdem eine Tasche bekommen, damit sie die Player verstecken können, um sich vor Gefahr zu schützen. Man muss wirklich viele Aspekte berücksichtigen! Im Hörbuch selber arbeiten wir darum nur mit Naturgeräuschen, weil Musik ja zum Beispiel in Afghanistan verboten ist. Außerdem sind diese Geräusche universell und man versteht sie auch in Namibia oder Kamerun. Denn die Inhalte sollen nicht stark verändert werden. Wir wollen überall gleichbleibend arbeiten.

Sadaf Zahedi sitzt in einem Ornamentfenster.
© Das Goldkind Fotografie Berlin

Das Projekt werde ich anschließend auch in Kamerun, Uganda, Namibia, Irak, Libanon, Indonesien und Indien starten und ich freue mich so darauf, die Kinder dort kennenzulernen! Ich möchte ihnen damit zeigen, dass sie wichtig sind, dass ich diese Geschichte extra für sie geschrieben habe. Diese Wertschätzung ist mir total wichtig. In allen Ländern haben wir Organisationen gefunden, die das Projekt vor Ort begleiten und Ansprechpersonen stellen.

Es ist ja eine enorme Arbeit, die du da reinsteckst. Wie machst du das? 

Ich habe meinen Job gekündigt und verdiene gerade mit meinem Projekt kein Geld, denn ich mache das ehrenamtlich. Ich denke, wir kommen mit leeren Händen auf die Welt und wir werden mit leeren Händen die Welt verlassen. Ich finde, jedes Kind hat das Recht auf Bildung und bin mir sicher, mein Projekt wird Erfolg haben. Natürlich müssen wir finanziell gerade zurückstecken, aber ich hoffe, dass das Projekt sich in Zukunft so finanzieren wird, dass wir damit auch etwas verdienen können. Gerade schreibe ich den zweiten Teil des Hörspiels, in dem es um Berufe geht. Denn natürlich geht die Arbeit immer weiter. 

Was ist für dich die Perspektive für die Kinder, die teilnehmen?

Ich hoffe, dass wir in zehn Jahren, wenn diese Kinder viel gelernt haben, eine Kooperation mit Universitäten und Hochschulen weltweit aufbauen und einen Studiengang entwickeln, der diese Kinder anspricht. Mein Traum ist, das Projekt weiterzuführen, wenn sie erwachsen sind, und ihnen Werkzeuge in die Hand geben, wie sie ohne das Wissen aus Büchern, mit dem gehörten Wissen, ihr Land aufbauen können. Vielleicht kann man ihnen für ein Jahr ein Stipendium im Ausland ermöglichen, wenn sie gute Leistungen gezeigt haben, damit tatsächlich eine Veränderung stattfinden kann. Denn es braucht zwei Generationen, um eine wirkliche Veränderung zuzulassen.

Was für ein tolles Projekt! Viel Erfolg dabei und vielen Dank für das Interview.

Danke, Annika.

Sadaf Zahedi

wurde 1985 in Kabul, Afghanistan, geboren. Als Kriegsflüchtlingskind kam sie in ihrem dritten Lebensjahr nach Deutschland und ist in Bremen aufgewachsen. Immer wieder geht sie mit ihren Gedichten auf Bühnen, um Organisationen bei Spendensammlungen zu unterstützen. Neben der Begeisterung zum Schreiben bringt sie seit ihrem 25. Lebensjahr ihr Erlebtes sowie ihre Gefühle auch auf Leinwand und hat die Werke bei Kunstausstellungen gezeigt. Wird etwas verkauft, spendet sie das Kindern in Kriegsgebieten. Als Mutter von drei Kindern nutzt sie jede freie Minute, um niederzuschreiben, was ihre Kindheit in einer Familie zwischen Krieg, Flucht und Heimatlosigkeit geprägt hat. Außerdem hat sie das Projekt Bildung ohne Bücher ins Leben gerufen, das sich der zweisprachigen Bildungsförderung analphabetischer Kinder in ländlichen Gebieten Afghanistans widmet und langfristig weltweit ausdehnen möchte.

Zum Autorinnenprofil von Sadaf Zahedi

Bildung ohne Bücher auf Sadaf Zahedis Website und auf Instagram

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