Das fremde Italien: Dieter Richter zum Gastland der Frankfurter Buchmesse

Das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse ist Italien. Dieter Richter hat jahrzehntelang über dieses Land geforscht, in Büchern und vor Ort. Er schrieb mehrere kulturwissenschaftliche Bücher über diesen Teil der Welt. Zuletzt veröffentlichte er eine Sammlung von Landschaftstexten über die Costiera Amalfitana. 

Das Logo des Gastlandes Italien der Frankfurter Buchmesse 2024.
© Frankfurter Buchmesse

Italien ist in diesem Jahr das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Was macht das Land für Sie so besonders, dass Sie seit Jahren Bücher darüber schreiben? 

Ich antworte mit meinen Büchern auf das, was mir widerfährt. In der Begegnung mit dem Fremden, dem fremden Land, das Italien (genauer gesagt das südliche, das mediterrane Italien) für mich immer war und bleibt. Als ich 1980 zum ersten Mal den Vesuv gesehen habe, diesen ungeheuren „Scherbenberg der Zeit“, wie ihn Jean Paul genannt hat, musste ich darauf antworten. Nicht als Künstler, nicht als Dichter, sondern mit meinem Handwerkszeug, der Sprache der Erkundung, des Berichts. 

Die Spannung zwischen dem Eigenem und dem Fremden ist daher die Grundmelodie fast aller meiner Bücher. Ich bin überzeugt davon, dass kulturelle Erfahrung so gut wie immer aus einer solchen Spannung entsteht. Das gilt auch für die eigene Wahrnehmung. Da ich zwischen beiden Ländern pendle, sehe ich Italien mit deutschen, Deutschland mit italienischen Augen. Das bewirkt Entdeckungen nach beiden Seiten.

Was macht Ihrer Meinung nach das literarische Italien aus? 

Nach der großen, inzwischen schon „klassischen“ Literatur des späteren 20.Jahrhunderts (Bassani, Calvino, Tabucchi etc.) erleben wir zur Zeit eine jüngere literarische Generation, darunter auffallend viele Frauen (etwa Michela Murgia, Francesca Melandri, Donatella Di Pietrantonio), in deren Werken es, sehr verkürzt gesagt, um Fragen der Globalisierung, aber auch um eine neue Kultur der Erinnerung geht. 

Was mich fasziniert, ist zum Beispiel, wie sehr dabei die Konflikte zwischen „alter“ und „neuer“ Welt, konkret zwischen „Provinz“ und „Zentrum“ noch immer eine Rolle spielen, mit Schauplätzen in den Abruzzen, in Apulien, auf Sardinien. Auch Elena Ferrante (von der deutschen Kritik gern in die Kitsch-Ecke gedrängt) entwirft ein solches, Generationen übergreifendes Panorama eines globalen Wandels. Zur neuen Sprache des Erinnerns gehört ein anderer Blick auf Krieg, Faschismus und Kolonialismus. Mein Favorit seit alters bleibt Erri De Luca, natürlich auch wegen der Herkunft seiner Figuren aus Neapel, meiner Stadt. Und wegen seiner Biographie in der revolutionären Linken. Bei ihm kann der sprachliche Rückgriff auf das Verschwindende (Dialekt, Archaisches) zur Kritik der Banalität der Moderne werden. 


Die Spannung zwischen dem Eigenem und dem Fremden ist die Grundmelodie fast aller meiner Bücher.


Italien übte auf viele deutsche Autor*innen einen großen Einfluss aus. Sehen Sie den heute auch noch? 

Alle paar Jahre wird sie hierzulande totgesagt, die alte deutsche Sehnsucht nach Italien. Gern zitiert als ihr literarischer Grabstein wird dann Rolf-Dieter Brinkmanns Hass-Buch auf Italien Rom, Blicke (1979). Dabei galt das nicht einmal für die Zeit, als dieses Buch erschien, gerade in den „linken“ Siebziger Jahren war Italien ein leuchtender Stern am dunklen deutschen Himmel, ein roter allerdings. Eindrucksvolle und kluge Sachbücher sind inzwischen über das Land geschrieben worden, genauer besehen von heimlicher Liebe geprägt (z.B. Thomas Steinfeld, Italien, Porträt eines fremden Landes, 2020). Auch in der Belletristik ist Italien weiterhin Schauplatz wunderbarer Erleuchtung und, ja, großer Gefühle. Das gilt nicht nur für eher etablierte Autoren wie Martin Mosebach oder Arnold Stadler. 

Gerade in den Werken jüngerer Autorinnen und Autoren taucht das Land wie selbstverständlich wieder auf, als Schauplatz oder als poetische Inspiration, ich denke an Nora Bossong, Esther Kinsky, Ingo Schulze oder Durs Grünbein. „Rom oder nicht Rom, das ist keine Frage“ hat mir der letztere nach einem gemeinsamen Auftritt in sein Römisches Zeichenbuch (2010) geschrieben, inzwischen hat er sogar eine eigene Wohnung in Rom. 

A propos Rom: In der Jury für die von der Casa di Goethe ausgeschriebenen Stipendien für einen zweimonatigen Studienaufenthalt in Goethes römischer Wohnung hatten wir 2024 über rund einhundert eingegangene Anträge zu entscheiden. Einhundert Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler, Künstler und andere kreative Menschen, die nach Rom kommen wollten mit einem Arbeitsvorhaben, das, so die Vergabebedingungen, einen Aufenthalt in Rom notwendig machte! Im übrigen leben wir ohnehin in einer Epoche einer zweiten italienischen Renaissance. Ich spreche von der „Meridionalisierung“, also der „Versüdlichung“ des Nordens und erinnere an den Triumphzug der italienischen Küche, an die Piazza-Kultur der Architekten, an das Design, an vom Süden inspirierte Lebensweisen im Alltag. Vorbild Italien überall.

In Ihrem letzten Buch Costiera Amalfitana geht es um die Amalfi-Küste. Haben Sie schon ein Thema für das nächste Buch im Auge?

Kommt Zeit, kommt Licht.

Oder auch nicht.

Porträt von Dieter Richter
© Ezzelino v. Wedel

Dieter Richter

wurde am 24. Dezember 1938 in Hof/Bayern geboren und ist Professor und Schriftsteller. Er studierte Germanistik, Altphilologie und Theologie in München. Im Jahre 1972 wurde als Professor für Kritische Literaturgeschichte an die Universität Bremen berufen. Dieter Richter ist Verfasser zahlreicher kulturwissenschaftlicher Bücher, zuletzt erschien Costiera Amalfitana im Wagenbach Verlag. 2009 wurde er mit dem NDR-Sachbuch-Preis für Der Süden – Geschichte einer Himmelsrichtung ausgezeichnet.

Zum Autorenprofil von Dieter Richter

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