Die Sommerferien haben begonnen und fast magisch werden wir von Reisezielen in weiter Ferne angezogen. Aber Moment! Muss es immer der Langstreckenflug sein? Hat nicht auch Deutschland eine ganze Menge zu bieten? Und ob! Heike Müller hat mit Autor Thomas Böhm über sein neues Buch Da war ich eigentlich noch nie – Die Wunderkammer des Reisens in Deutschland (Das kulturelle Gedächtnis 2021) gesprochen.
Mit alten Reiseberichten, Reiseschulen, Wanderführern, mit vergessenen, skurrilen, philosophierenden Texten über das Reisen in Deutschland geht es hin zu märchenhaften Orten abseits der großen Straßen, zu uralten Bäumen, zu Parks, Bädern, Klöstern. Neben diesen Schätzen aus der älteren und jüngeren Reiseliteratur enthält der Band literarische Texte, die die Schönheit unseres Landes, seiner Städte und Landschaften besingen.
Mit deinem Buch Da war ich eigentlich noch nie – Die Wunderkammer des Reisens in Deutschland machst du Lust auf Entdeckungsreisen direkt vor der eigenen Haustür. Wie kamst du auf die Idee?
Die beruht auf einer Faszination, die mich seit meiner Kindheit begleitet. Seit ich als 5jähriger das Schloss Mespelbrunn im Spessart sah. Im ersten Urlaub mit meinen Eltern. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Dazu muss man sagen: Ich komme aus dem Ruhrgebiet, da ist kaum ein Gebäude älter als 200 Jahre. Und plötzlich – wir waren ja nur ein paar Stunden mit unserem VW-Käfer gefahren, stand ich vor diesem barocken Wasserschloss. Das aussah wie im Märchen. Und gleich würde ich hineingehen können... Diese Faszination, dass das Schöne, Geheimnisvolle, Entdeckenswerte in der näheren Ferne zu finden ist, wollte ich in meinem Buch zum Ausdruck bringen.
Der Schriftsteller Matthias Politycki hat kürzlich in einer Kolumne für unser Literaturmagazin geschrieben: „Eine Reise ist eine Expedition ins Unbekannte, ob es uns in Zentralafrika erwartet oder im Bayerischen Wald.“ Also ist beides gleichermaßen reizvoll und bietet in jedem Fall eine Horizonterweiterung?
Natürlich. Wobei ich ergänzen würde: Eine Reise in Deutschland ist auch immer eine Zeitreise. Zurück in die eigene Lebensgeschichte. An Orte, an denen wir vielleicht schon als Kind waren. Mit unseren Eltern. Und natürlich auch eine Zeitreise in der eigenen Kultur. Denn an jedem Ort lässt sich ja sehr viel Geschichtliches erfahren, regionale Kultur erleben – Kulinarisches, lokales Brauchtum, Geschichten aus der Gegend.
Unser Literaturmagazin stellt den Klimawandel diesen Monat thematisch in den Mittelpunkt. Dein Reiseführer bietet wahrlich eine abwechslungsreiche Schatzkammer, die viele reizvolle Alternativen zu umweltzerstörenden Fernreisen aufzeigt. War das ein wichtiger Aspekt bei deiner Arbeit an dem Buch?
Das war ein Ausgangspunkt. Vor zwei Jahren las ich das Buch Wir sind das Klima von Jonathan Safran Foer. Darin erläutert er, wie wir mit kleinen, nicht wirklich schmerzhaften Veränderungen unseres Verhaltens einen wichtigen Beitrag gegen den Klimawandel leisten können. Indem wir zum Beispiel an einem Tag in der Woche kein Fleisch essen. Und ich dachte: Das ist ein guter Anfang! Wo könnten sonst noch solche Ansätze sein? Natürlich beim Reisen. Statt klimaschädliche Fernreisen lieber in Deutschland unterwegs sein – denn wer kennt unser Land schon wirklich?
Die Wunderkammer des Reisens ist zugleich auch Geschichtsbuch, weil es in spannenden Kapiteln auch die Entwicklung des Reisens in Deutschland aufzeigt. Dafür hast du zahlreiche Fundstücke zusammengestellt, die einen heute zugleich staunen und schmunzeln lassen, wie zum Beispiel die Gepäckliste für Fußreisende von 1843 oder Das erste Autoreisebuch von 1903. Wenn du das Reisen heute klimafreundlicher gestalten könntest, würdest du zu früheren Formen des Reisens zurückkehren wollen?
Natürlich. Vor allem, weil es langsamer war. Für uns bedeutet das Reisen heute oft, wir fahren von zu Hause an einen bestimmten Ort, verbringen da Zeit, fahren zurück. Der ganze Weg dorthin wird nicht wahrgenommen. Ist bloß eine zu überwindende Distanz.
Dabei gibt es auf dem Weg viel zu erleben – überall in Deutschland. Das versuche ich in meinem Buch zu zeigen. Auf vielen Karten, auf denen ich zum Beispiel die artenreichsten Zoos, die schönsten Parks, die interessantesten Schauhöhlen, die schnellsten Achterbahnen, die besten Freilichtmuseen gesammelt habe.
Und ich mache auch viele Vorschläge für andere Arten des Reisens – von der Fahrradtour entlang den beliebtesten (und mühelosesten) Radwegen in Deutschland über die schönsten Frühjahrswanderungen bis hin zu einer besonderen Form des Reisens: des absichtlichen Verlaufens in der eigenen Stadt.
Thomas Böhm
wurde 1968 in Oberhausen geboren und ist Kulturjournalist und Autor. Er moderiert das wöchentliche Buchmagazin Die Literaturagenten auf radioeins vom rbb. Er schrieb unter anderem die Hörspielserie zu Babylon Berlin. Seine zusammen mit Carsten Pfeiffer herausgegebene Wunderkammer der deutschen Sprache (Das kulturelle Gedächtnis 2020) wurde 2020 von der Stiftung Buchkunst als Schönstes Buch des Jahres ausgezeichnet.