Jungs weinen nicht, Rosa ist für Mädchen und Familien bestehen aus Vater, Mutter und Kind!? Unsere Welt ist bunt und vielfältig - und so wünschen wir uns auch unsere Kinderbücher! Im Interview hat Bernd Jacobs mit Annika Depping über das Projekt EeneMeeneKiste und diversitätsbewusste Kinderbücher gesprochen, in denen sich jede*r wiederfinden kann.
Worum geht es beim Projekt EeneMeeneKiste?
EeneMeeneKiste wurde vor mehr als zehn Jahren gegründet, um zur Verbreitung von Bilderbüchern und anderer Kinderliteratur beizutragen, in der sich die vielfältigen Lebensrealitäten von Kindern widerspiegeln und die so Anknüpfungspunkte und Identifikationsmöglichkeiten für alle Kinder bieten.
Angefangen haben wir mit einer Broschüre zum Thema. Seitdem schaffen wir immer neue diversitätsbewusste Bücher an, die von Kindergruppen und Schulen individuell zusammengestellt und ausgeliehen werden können. Die einzige Bedingung: Die Bücher müssen auch in die Familien ausgeliehen werden…
Von Anfang an wurden wir oft gebeten, die Bücher aus unseren Verleihkisten in Teamsitzungen vorzustellen und Erfahrungen und Ideen zur pädagogischen Arbeit mit diesen vielfältigen Büchern mit den Kolleg*innen zu teilen. Mittlerweile haben sich daraus unterschiedliche Fortbildungsformate rund um die Themenkomplexe diversitätsbewusste und sprachliche Bildung entwickelt, außerdem verschiedene Angebote für Kinder und Eltern.
Was macht ein Bilderbuch aus, das zum interkulturellen Lernen beiträgt?
Bücher für Kinder sollten unserer Meinung nach zwei grundsätzliche Qualitätskriterien erfüllen: Sie müssen ein vielfältiges Bild von Welt vermitteln und jedes Kind hat das Recht, sich in Büchern wiederzufinden. Jedes Kind hat eine einzigartige Lebenssituation. Kinder haben nicht einfach nur einen Migrationshintergrund oder nicht, sondern ihre Lebenswelt wird von sehr unterschiedlichen Aspekten geprägt: körperliche Merkmale wir Haar- und Hautfarbe, Größe und Gewicht, aber auch die Familiensprache(n), die Familienkonstellation, der soziale und ökonomische Hintergrund der Familie, ihre Zugangsmöglichkeiten zu Bildung und anderen gesellschaftlichen Ressourcen, und, und, und…
Nur wenn wir die einzelnen Kinder in ihren unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen wahrnehmen, können wir sie auch in ihrer komplexen und einzigartigen Lebenssituation verstehen und ihnen gerecht werden. Und diese verschiedenen Heterogenitätsdimensionen sollten sich auch in Bilderbüchern widerspiegeln. Zum einen, damit die verschiedenen Lebensrealitäten gleichberechtigt nebeneinanderstehen und nicht eine „Normalität“ konstruiert wird und alles Abweichende als bestenfalls als „Sonderform“ dasteht. Zum anderen, damit jedes Kind Anknüpfungspunkte an seine eigene Lebensrealität findet, diese gewertschätzt wird und so ein lustvolles Erleben von Bilderbüchern und damit auch ein Lernen auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden kann.
Wenn ihr Bücher für eure Kisten auswählt, achtet ihr aber nicht nur darauf, dass vielfältige Menschen, also zum Beispiel unterschiedlicher Ethnien und unterschiedlichen Aussehens, abgebildet sind, sondern auch auf offene Geschlechtsidentitäten. Warum ist das so wichtig für euch?
Kinder entwickeln ihre Geschlechtsidentität sehr unterschiedlich. Für manche ist es früh wichtig, sich als Junge oder Mädchen zu definieren. Für andere Kinder ist das lange überhaupt kein Thema. Oder sie definieren sich anders als das Geschlecht, welches ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, manche für einige Zeit, andere für den Rest ihres Lebens. Wenn aber, wie immer noch in (zu) vielen Bilderbüchern, nur Protagonist*innen auftauchen, die sich eindeutig einem der beiden „herkömmlichen“ Geschlechter zuordnen, und wenn diese Geschlechterrollen dann auch noch eher stereotyp dargestellt werden, ist das für viele Kinder ein Problem. Ich habe ja schon vorher gesagt, Bilderbücher sollten ein vielfältiges Bild von Welt darstellen und jedes Kind sollte sich in den Charakteren wiederfinden können. Beim Thema Geschlechtsidentität wird besonders deutlich, warum uns das so wichtig ist: Wenn es nur stereotype Darstellungen von Geschlechtsidentitäten gibt, lernen Kinder nur einen kleinen Ausschnitt dessen kennen, was möglich ist. Somit fehlt es an Rolemodels, um frei eine individuelle, passende, geschlechtliche Identität zu entwickeln. Und: Alle Kinder, die sich nicht mit einem der gängigen Geschlechterbildern identifizieren, bekommen gespiegelt „Bei Dir stimmt etwas nicht, Du bist so, wie du bist, nicht richtig“.
Nun reicht es ja nicht, diese tollen Bücher nur vorzulesen. Ihr habt auch Tipps gesammelt, wie man Kinder beim Entdecken der Bücher begleiten kann. Was kann man denn zu Hause gut umsetzen?
Wir sind große Fans vom dialogischen Lesen, einer Methode, durch die Kinder beim gemeinsamen Bilderbuchbetrachten immer mehr zu Erzählenden werden. Das führt zum einen zu sprachlichen Entwicklungsschüben, zum anderen können so auch schwierige Themen, die für Kinder wichtig sind, erkannt und besprechbar gemacht werden. Unser Tipp also: Stellt den Kindern beim Vorlesen immer wieder Fragen und nutzt ihre Antworten als Einstieg in einen gemeinsamen Dialog. Manchmal kann das dazu führen, das wir nie beim Ende vom Buch ankommen, aber wir haben nicht nur viel über die Ideen und Vorstellungen der Kinder erfahren, sondern auch viele Sprachanlässe geschaffen, die Kinder in ihrer sprachlichen Entwicklung unterstützen.
Wie viel kann man falsch manchen mit Kinderbüchern, die nicht „in die Kiste“ passen?
Eins ist klar: Nicht in jedem Bilderbuch können alle Aspekte, die uns wichtig sind, vorkommen. Und natürlich kann auch mal ein Conni-Buch oder Bob der Baumeister gelesen werden, vor allem, wenn das von den Kindern gewünscht ist. Aber wenn nur Bücher gelesen werden, in denen sich die Heterogenität der Kinder nicht widerspiegelt, kann das für viele Kinder, die sich in den Büchern aus unterschiedlichen Gründen nicht wiederfinden, zu sehr frustigen und auch schmerzhaften Erfahrungen führen: „Du tauchst nicht auf, Du bist nicht gemeint. Mit Dir stimmt etwas nicht.“ Und diese Erfahrungen wollen glaube ich alle, die mit Kindern lesen, sei es beruflich oder privat, nicht vermitteln.
Wie ist euer Eindruck, werden Bilder- und Kinderbücher vielfältiger?
Ja und nein… Es gibt schon mehr neue Bücher, denen das Thema wichtig ist, als noch vor einigen Jahren. Und viele Kinderbuchverlage werden auch sensibler für eine heterogenitätssensible Darstellungen. Aber es tauchen auch immer noch mehr als genug Neuerscheinungen auf, bei denen wir uns an den Kopf fassen und denken: „Das kann doch nicht wahr sein, dass so ein Buch 2022 noch erscheint…“
Welche Bücher habt ihr zuletzt in die Kiste gepackt, was sind eure Tipps?
Schwierige Frage, es gab einiges an tollen neuen Büchern in letzter Zeit…
Super finden wir die mehrsprachige Version von Ich bin anders als du – Ich bin wie du von Constanze von Kitzing aus der Edition Bilibri. Ein tolles Wende-Buch zu den Themen Gemeinsamkeit und Differenz, das in 12 verschiedenen Sprachausgaben zu haben ist.
Oder auch Berg – Ein Tag mit Papa von Pete Oswald. Ein Bilderbuch ganz ohne Text, dafür aber mit vielen Sprech- und Erzählanlässen, in jeder Sprache „lesbar“.
Und: Ich bin wie der Fluss – ein wunderbares Buch von Jordan Scott und Sydney Smith, über vieles, unter anderem auch das Stottern. Zu diesem Buch gibt es momentan interessante Veranstaltungen in der Stadtbibliothek.
Wie kommt dann am Ende denn die Kiste in die KiTa oder die Schule, was muss man dafür tun?
Schreibt uns gerne eine Mail, auch wenn ihr Interesse an Fortbildungen, Workshops oder Projekten mit uns habt: kontakt@eene-meene-kiste.de
EeneMeeneKiste
möchte zur Verbreitung von Bilder- und anderen Kinderbüchern beitragen, in denen interkulturelle Aspekte berücksichtigt werden. Das Team besteht aus einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich seit langem und in verschiedenen Arbeitszusammenhängen (Bildungsverein Bonbonfabrik e.V., Kinder- und Jugendbuchladen Leseland und dem Kinderhaus Kodakistan) oft und gerne mit interkulturellen Kinderbüchern beschäftigen.