Fünfzehn Bremer*innen erzählen das berühmte Märchen der Bremer Stadtmusikanten in ihren Muttersprachen. Das Projekt Die Bremer Sprachmusikanten, das Valentina Rojas Loa für das Literaturhaus Bremen umgesetzt hat, zeigt die Vielfalt unserer Literatur- und Hansestadt. Auch Werder Bremens Präsident Dr. Hubertus Hess-Grunewald war als Sprecher beteiligt. – Ein Gespräch mit Annika Depping
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: Die Bremer Stadtmusikanten waren in meiner Kindheit immer mein Lieblingsmärchen und sind es auch heute noch. Durch meinen Opa habe ich die Geschichte in sehr positiver Erinnerung. Er ist früh gestorben, aber ich erinnere mich noch genau: Ich bin immer zu ihm auf den Schoß gekommen und dann hat er mir das Märchen der Bremer Stadtmusikanten erzählt. Das hat mich so fasziniert! Vor drei oder vier Jahren haben wir mit der Bremer Leselust eine CD aufgenommen: Werder liest Märchen. Auch da habe ich mir natürlich die Bremer Stadtmusikanten ausgesucht und sie eingesprochen.
Valentina Rojas Loa: Ich stamme aus Mexiko. Bevor ich überhaupt wusste, dass ich in Deutschland und in Bremen landen würde, kannte ich schon die Bremer Stadtmusikanten. Ich hatte keine Ahnung von der Stadt, aber ich hatte ein klares Bild von diesem Mittelalterlichen. Als ich dann nach Bremen kam, hat es gestimmt. Es ist eine Geschichte, die mir immer gefallen hat, weil sie viele tolle Bedeutungen hat.
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: Für mich ist es eine Geschichte von vier Outlaws, die in ihren normalen Rollen nicht mehr klarkommen. Sie tun sich zusammen und sind stärker als die bösen Räuber. Das ist eine tolle Botschaft.
Valentina Rojas Loa: Und wirklich jede*r kann ja eine sinnvolle Bedeutung in dem Märchen entdecken. Es ist sehr vielfältig! Wenn wir zum Beispiel über Heimat sprechen: Ich bin deutsch und mexikanisch und ich fühle mich in Bremen zu Hause. Für mich feiert das Märchen diese Vielfalt, das Verständnis zwischen den verschiedenen Tieren, den sozialen Zusammenhalt und die Gemeinschaft. Bremen ist für mich ein Zuhause geworden, weil ich hier ich sein kann. Das Märchen repräsentiert diese sehr besondere Beziehung, die ich mit der Stadt entwickelt habe, von außen zu kommen, aber trotzdem willkommen zu sein und mitgestalten zu können.
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: Das Märchen ist wirklich ein Stück Heimat, finde ich. Wenn man sich mit Bremen identifiziert – egal, ob man hier aufgewachsen ist oder ob man zugezogen ist –, hat man ja bestimmte Ankerpunkte, die das ausmachen. Das sind nicht nur Orte, sondern ich finde, die Bremer Stadtmusikanten gehören auch dazu. Und auch wir als Werder Bremen sind ein Teil der Stadt. Viele Menschen identifizieren sich mit Werder. Wir leben das Miteinander verschiedener Kulturen, verschiedener Nationalitäten und Religionen und sprechen uns gegen Diskriminierung, Gewalt und Rassismus aus. Es kommen immer wieder Spieler zu Werder, eben weil wir so sind.
Valentina Rojas Loa: Für mich geht es auch darum, dass man mit Teamwork und Gemeinschaft mehr erreichen kann als alleine. Und dann geht es für mich noch um das Wagnis, das Leben zu genießen und glücklich zu sein. Die Bremer Stadtmusikanten feiern die Freundschaft, die Musik, das Zusammensein. Man muss Wege finden, um glücklich miteinander zu sein. Und die Tiere sind total nett, natürlich auch in der Version von Janosch und in den Illustrationen von Anke Bär, die wir für unser Projekt verwenden. Man hat einfach Lust, mit ihnen befreundet zu sein.
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: Stimmt! Mein Lieblingstier in der Geschichte ist der Esel. Was ist das, was ich so sympathisch finde? Dass der Esel ohne zu wissen, was ihn erwartet, sagt: „Ich gehe nach Bremen und werde Stadtmusikant!“ Er ist optimistisch. Ohne Zweifel weiß er: „In Bremen habe ich ein besseres Leben.“ Es gelingt ihm, die anderen drei davon zu überzeugen, weil ja keines der anderen Tiere auch nur einen Moment zögert. Dieses optimistische Grundgefühl finde ich sehr schön. Als wir uns mit dem Märchen so intensiv beschäftigt haben, ist mir erst klar geworden, wie die Tiere agieren. Da habe ich ein Gefühl für sie entwickelt. Der Esel war mir mit seiner Rolle emotional am nächsten. Das habe ich beim Einsprechen gemerkt: Es ging leichter von der Hand.
Valentina Rojas-Loa: Ja, die Aufnahmen… Es gab viele besondere Momente in diesem Projekt, aber die Aufnahmen im Studio waren eine der schönsten Erfahrungen. Die Leser*innen zu begleiten war wunderbar! Es war ein bisschen wie singen lernen. Wir können zwar alle singen, aber viele von uns haben ihre Stimme nicht entdeckt. Doch es passierte beim Erzählen! Ich konnte beobachten, wie jede*r der Leser*innen die eigene Stimme entdeckt hat. Diese Magie des Geschichtenerzählens zu erleben, diese ursprüngliche Art der Literatur, als wir alle um das Feuer gesessen haben und gesagt haben: „Es war einmal…”, das war toll!
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: Die Aufnahmen waren wirklich intensiv! Wir haben sehr detailgenau gearbeitet und versucht, die Emotionen der Tiere klanglich umzusetzen. Ich habe ja die Version in Leichter Sprache eingesprochen, in der wir weniger und einfache Worte verwenden. Dadurch mussten wir die Gefühle auf andere Weise transportieren, mit Stimmlage und Klangfarbe. Das war toll! Mir ist bei den Aufnahmen erst aufgefallen, dass ich manchmal viel zu kompliziert spreche. Bei Werder haben wir auch ein Projekt zu Leichter Sprache: Leicht Kicken. Da arbeiten wir mit anderen Clubs zusammen: Es geht darum, Fußball-Begriffe in Leichter Sprache zu erklären. Das ist wichtig, um die Sprachbarriere abzubauen und uns zu öffnen. In unserer Version der Stadtmusikanten wurde auch ganz viel weggelassen, sodass alles leicht verständlich ist. Das Märchen ist in dieser Version kürzer und trotzdem steckt da so viel drin!
Valentina Rojas Loa: Die Bilder sind in der Version in Leichter Sprache sehr einfach, aber Sie haben sie gesehen. Das ist total wichtig, wenn man eine Geschichte erzählt! Wenn das Märchen lebhaft und mit Leidenschaft erzählt ist, dann erwacht es zum Leben. Wir haben im Studio ja hauptsächlich mit „normalen Menschen“ gearbeitet, nicht mit professionellen Sprecher*innen. Ich fand das super. So kann man die Stimmen der Stadt hören! Die Kinder, Jugendlichen, Rentner*innen, Frauen, Männer, Eingesessene, Menschen, die neu angekommen sind in Bremen… Das war natürlich auch eine Herausforderung, aber es hatte viel Herz! Jede dieser Personen hat eine eigene Stadtmusikanten-Geschichte.
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: Darf ich aus Neugierde einmal fragen, wie die Aufnahmen in den Sprachen gelaufen sind, die Sie selbst nicht sprechen?
Valentina Rojas Loa: Das ist sehr schwierig, aber gleichzeitig super interessant. Man tappt im Dunkeln: Was erzählt er auf Twi in diesem Moment? Aber man entwickelt eine gewisse Sprachkompetenz. Das heißt nicht, alle Sprachen zu sprechen und zu verstehen. Das ist unmöglich. Trotzdem konnten die Produzenten und ich in den anderen Sprachen navigieren. Das war unglaublich! Wir haben für die Sprachmusikanten die Sprachen ausgesucht, die am häufigsten gesprochen werden und die, die am repräsentativsten sind. Also Plattdeutsch zum Beispiel, und Gebärdensprache, denn das ist eine sehr wichtige Sprache. Dazu die drei internationalen Sprachen: Englisch, Französisch und Spanisch. Diese Sprachen sprechen viele Menschen als zweite Fremdsprache. Es gibt auf unserer Seite auch die Möglichkeit, dass Menschen ihre Version der Stadtmusikanten in ihrer Muttersprache erzählen, sodass alle mitmachen können.
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: In den 15 ausgewählten Sprachen spiegelt sich die Vielfalt, der internationale Geist unserer Stadt. Sicherlich gibt es eine Kolonialgeschichte, die Schattenseiten hat. Aber wir haben ein kulturelles Erbe, das viele Menschen nach Bremen zieht. Viele haben Wurzeln im Ausland und fühlen sich hier doch heimisch. Ich glaube, dass Bremen insgesamt dafür steht, dass wir weltoffen sind. Literatur verkörpert und transportiert das und Bremen ist prädestiniert, das zu zeigen. Auch wenn Bremen klein ist, gibt es ein großes literarisches Angebot. Deswegen finde ich toll, dass Bremen sich als City of Literature bewirbt. Man aktiviert hier viele Potenziale. Das sieht man ja in unserem Projekt mit dem Märchen.
Valentina Rojas Loa: Ja, hier ist die Welt zu Hause. Man sieht das vielleicht nicht so offensichtlich wie in London oder New York, aber 38 Prozent der Menschen haben Wurzeln im Ausland. Sie haben auch ihre Sprachen, andere Kulturen, ihre Perspektiven. Das bereichert natürlich die literarische Szene der Stadt um andere Sprachen und Geschichten. Wenn man diesen Reichtum umarmt und annimmt, ist das eine große Stärke.
Die Bremer Sprachmusikanten
Komm mit auf die Reise nach Bremen! Wie die Bremer Stadtmusikanten gemeinsam mit der universellen Sprache der Musik unterwegs sind, so singt, lacht, schreit, liest und schreibt Bremen in mehr als 70 Sprachen. Bremer*innen erzählen die Geschichte über die vier Tiere auf ihrer Reise nach Bremen in der beliebten Fassung von Janosch neu. Eine Hommage an das Grimm’sche Märchen und ein Appell an Weltoffenheit, Zusammenhalt und Freiheit. Höre selbst!