Lesen hat doch nichts mit Gerechtigkeit zu tun, denkst du. Du liest Bücher, die gut geschrieben sind, spannend erzählen, da kann doch nichts Ungerechtes dabei sein. Qualität setzt sich durch! Das dachte ich auch lange. Ein Blick in die meisten Bücherregale spricht aber Bände.
Ich habe Literaturwissenschaften studiert. Im Studium ging es meistens um Bücher von… weißen Männern! Während des Masterstudiums hatte ich irgendwann genug davon. Inzwischen kannte ich Geschichten über ältere Herren in der Midlife-Crisis zuhauf, über Potenzprobleme, Macht und Krieg. Aber wo waren die anderen Perspektiven, die Stimmen von Frauen, queeren Menschen, Schwarzen und People of Color? Über Unterdrückung und Aufruhr, queeres Leben, Mutterschaft und weibliches Begehren? An der Uni spielten diese Texte praktisch keine Rolle. Fast immer hatten (mittel)alte weiße Männer das Sagen. Und nicht nur das: Lange griff ich in meiner Freizeit zu ähnlichen Büchern, wie sie die Lehrenden an der Uni für mich auswählten.
Mit diesem Leseverhalten bin ich kein Einzelfall. In den sozialen Medien findet man viele weitere Geschichten von Leser*innen, die Vergleichbares berichten und ich wette, wenn du mal darüber nachdenkst, hast du in deiner Schulzeit und darüber hinaus auch vor allem „Männerliteratur“ gelesen (um einen Begriff zu wählen, den es bezeichnenderweise gar nicht gibt). Aber warum?
Frauenliteratur
Nicole Seifert, Übersetzerin, Buchbloggerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin, schildert in ihrem Sachbuch Frauenliteratur (Kiepenheuer & Witsch 2021) nach. Sie zeigt: Frauen haben, anders als man vielleicht glauben mag, schon lange geschrieben, auch wenn es ihnen nicht leicht gemacht wurde. Zum Kanon gehören trotzdem vor allem ihre männlichen Kollegen.
Auch heute noch macht es einen Unterscheid, welches Geschlecht, welche Hautfarbe und welche sexuelle Identität ein*e Autor*in hat. Wieso? Kommt hier jetzt die Qualität ins Spiel? Liegt es daran, dass vor allem weiße Männer über die wichtigen Themen schreiben? Auch wenn das der Literaturkritik zuweilen als Rechtfertigung dient, können Frauen natürlich gute und wichtige Bücher schreiben – auch BIPoC* und queere Menschen können das. Das Problem ist, dass in unserer Welt nicht alle Stimmen gleiches Gehör finden. Argumentationsstark legt Seifert dar, welche misogynen Strukturen in unserer Gesellschaft dahinterstecken, welche persönlichen Prozesse bei den Leser*innen dazukommen und wie ein großer Teil der Literatur so ruckzuck vergessen und abgewertet wird.
Es wird deutlich: Der Literaturbetrieb ist immer noch ungerecht. Das fängt bei Verlagen an, geht weiter bei den Literaturpreisen, Literaturinstitutionen und in der Berichterstattung durch Journalist*innen und wirkt sich schließlich auf unser Lese- und Kaufverhalten aus. Die Studien, die Seifert vorstellt, belegen unter anderem, dass Kritiker*innen auch heute noch männlichen weißen Schriftstellern deutlich mehr Raum, Aufmerksamkeit und Wertschätzung geben als anderen. Kein Wunder, dass nicht nur ich lange viele spannende Geschichten nicht entdecken konnte, weil sie von den Menschen geschrieben wurden, die unsichtbar sind.
Frauenliteratur ist unterfüttert mit literatur- und medienwissenschaftlichen Forschungsergebnissen und bietet noch dazu einen fundierten Einblick in die weibliche Literaturgeschichte, in Kanonbildung und die Rolle von Schriftstellerinnen im heutigen Literaturbetrieb. Zwar geht es im Buch hauptsächlich um Frauen, doch auch andere, im Literaturbetrieb marginalisierte Gruppen werden mit bedacht. Bis jede*r die gleichen Möglichkeiten hat, gehört und gelesen zu werden, brauchen wir solche Betrachtungen.
„Mehr Literatur von Frauen zu lesen, von Schwarzen Menschen, von People of Color, von queeren und anderen marginalisierten Menschen wird an sich nichts an den beschriebenen strukturellen Missständen ändern. Aber es ist eine sehr gute Möglichkeit, das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und Schieflagen zu entwickeln oder zu schärfen.“
100 Autorinnen in Porträts
Problem erkannt – und jetzt? Wer einmal über den Tellerrand hinausgeschaut hat, kann eine ganz neue Welt des Schreibens entdecken. 100 Autorinnen in Porträts ist ein hilfreicher Kompass für diese Erkundungen. Im Sammelband stellen die Kritikerinnen Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter einen weiblichen Kanon auf.
Sie präsentieren 100 Autorinnen in Leben und Werk, in der Gegenwart startend nach dem Geburtsjahr sortiert. Die Porträts sind dabei so wertschätzend geschrieben, dass man meint, die Schriftstellerinnen persönlich kennenzulernen. Während wir lesen, wie Gertrude Stein, Juli Zeh, Zadie Smith, Astrid Lindgren, Hildegard von Bingen und viele andere schrieben und schreiben, wächst die Leseliste rasant!
Der Band in Halbleinen eignet sich wunderbar als Weihnachtsgeschenk, als Nachschlagewerk, zum häppchenweise Genießen oder zum begeisterten Wegschmökern.
Ein Fazit?
Inzwischen hat sich etwas geändert. Ich selbst lese, was mir gefällt. Ich wähle bewusster aus – und greife nur noch selten zu Büchern von weißen Männern. Nicht, dass die nicht schreiben könnten, aber ihre Geschichten interessieren mich aktuell weniger. Außerdem habe ich etwas aufzuholen.
Und im Literaturbetrieb? Nun ja – zumindest ist das Thema inzwischen präsenter. Das beweisen nicht nur die vorgestellten Bücher. Immerhin ein Anfang ist gemacht. Vielleicht bist ja auch du dabei und gestaltest dein Bücherregal in Zukunft bunter?
FRAUENLITERATUR. ABGEWERTET, VERGESSEN, WIEDERENTDECKT | Nicole Seifert | SACHBUCH Kiepenheuer & Witsch | Köln 2021 | 224 S. | €18,00
100 AUTORINNEN IN PORTRÄTS – VON ATWOOD BIS SAPPHO, VON ADICHIE BIS ZEH | Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter | SACHBUCH Piper | München 2021 |592 S. | €24,00
*Black, Indigenous und People of Color
Wenn du mehr queere Literatur entdecken möchtest: Hier geht's zur Reihe Queer (L)it! vom Literaturhaus
Annika Depping
ist seit einem Praktikum im Sommer 2014 im Team des Literaturhauses Bremen. Inzwischen leitet sie die Textredaktion des Literaturmagazins. Sie hat in Bremen Germanistik mit Schwerpunkt Literaturwissenschaften studiert und liest am liebsten in ihrem Schrebergarten. Über ihre Leseeindrücke schreibt sie auch im Online-Magazin Bücherstadt Kurier.
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