In seinem Buch Wellen lässt Heinz Helle seinen Ich-Erzähler zweifeln. Zweifeln an seiner Rolle als Vater und als Mann, zweifeln am richtigen Umgang mit der Pandemie, die zum Anfang der Erzählung Europa erreicht, zweifeln inmitten der Ambivalenz des Lebens zwischen Dankbarkeit und unerfüllten Sehnsüchten.
Der autofiktionale Roman ist protokollartig verfasst, viele Absätze beginnen mit „Und dann …“, wodurch ein Gefühl der unmittelbaren Nähe zur beschriebenen Situation erzeugt wird.
Gerade ist der Protagonist das zweite Mal Vater geworden, seine Frau ist die Hauptverdienerin der Familie und er kümmert sich hauptsächlich um das Neugeborene.
Er versucht, diese Rolle mit Verantwortung zu erfüllen, wobei ihm passende Vorbilder fehlen. Immer wieder setzt er sich mit toxischen Idealen von Männlichkeit auseinander, die in der Geschichte der Menschheit zu oft Gewalt und Vernichtung erzeugt haben. Er fragt sich, inwieweit er auch zu solchem Verhalten fähig ist. Diese gedanklichen, manchmal grüblerischen Exkurse in Geschichte, Philosophie und Soziologie sind gefüllt mit Querverweisen, die zur Parallelrecherche einladen.
In eskapistischen Momenten sehnt sich der Erzähler nach einem idealisierten Leben in einem Haus an der schwedischen Küste oder fantasiert vom Sex mit fremden Frauen. Dann geht er wieder ins Schlafzimmer und prüft, ob alle gut schlafen und noch atmen. Hier findet sich das titelgebende Motiv der Wellen mehrfach wieder – in dem Oszillieren zwischen liebender Nähe und erträumter Ferne und in der in Zürich empfundenen Sehnsucht nach dem Meer.
Die Liebe des Erzählers zu seiner Familie wird weniger theoretisch seziert, sondern zeigt sich vor allem im Tun. Mich hat das an eine Zeile aus einem Kettcar-Song erinnert: „Nicht, was man voller Sehnsucht sucht. Liebe ist das, was man tut.“ Die Frage des Erzählers, wie er als sorgender Elternteil eines Babys auch noch Partner, Mann und Schriftsteller sein kann, ist nicht neu – nur haben diese Themen früher fast ausschließlich Mütter betroffen. Eine männliche Selbstreflexion wie diese war überfällig.
WELLEN | Heinz Helle | ROMAN Suhrkamp | Berlin 2022 | 284 S. | € 23,00
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Dieser Buchtipp kommt von Michael Hockel, der die Albatros Buchhandlung Anfang 2022 übernommen hat. Er hat die bisherige Grundausrichtung der Buchhandlung beibehalten und bietet weiterhin gute Literatur, ausgewählte Kinder- und Jugendbücher und relevante Sachbücher an – und hat seit der Übernahme das Sortiment behutsam jünger und diverser gestaltet.
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