Ein Deutschland, in dem Eigentümer*innen ihre Wohnblöcke anzünden, um teure Räumungsklagen zu vermeiden und Menschen in Scharen im Berliner Tiergarten zelten, weil sie sich keinen Wohnraum mehr leisten können: Theresia Enzensberger denkt in ihrem neuen Roman aktuelle Entwicklungen konsequent weiter. Gleichzeitig entwirft sie in Auf See die Utopie einer schwimmenden, autonomen Seestatt in der Ostsee, in der die Protagonistin Yada fernab vom deutschen Alltag aufwächst.
Es ist eine dysfunktionale Utopie – das Projekt ihres Vaters, für das er am Anfang viel Zuspruch erhielt, von dem aber bald immer weniger Mitstreiter*innen überzeugt waren. Autonom funktionierte die Insel nie, inzwischen hat sich Verwitterung breit gemacht und das System funktioniert nur durch die Ausbeutung der Menschen auf dem sogenannten Mitarbeiterschiff. Yada mit ihren siebzehn Jahren beginnt zu dämmern, dass das Leben auf der Seestatt nicht besser sein kann als das vermeintliche Chaos auf dem Festland:
„Ich hatte mich bemüht, die Insel als meine Heimat zu verstehen, aber Projekte eignen sich nicht besonders gut als Zuhause.“ (S. 12)
Schließlich schmiedet sie einen Fluchtplan, um in Berlin nach den Spuren ihrer Mutter Helena zu suchen, einer vermeintlich psychisch kranken Künstlerin.
Auf See erzählt aus verschiedenen Perspektiven – der von Yada, der von Helena und in sachlichen Archivberichten – und auf mehreren Zeitebenen von einer Zukunft, die womöglich gar nicht so fern liegt, und ähnlichen Ideen aus der Vergangenheit. Weitere Hintergründe zum Roman hat die Autorin übrigens hier im Netz zusammengetragen, ein weiterer Hinweis darauf, wie gut recherchiert die Story ist. Enzensberger verbindet Coming-of-Age-Story, Science-Fiction und Gesellschaftskritik und erinnert damit auch an gängige Jugendliteratur. Das ist jedoch kein Manko: Der Roman ist gut lesbar, nah an den Figuren und überzeugt durch Intelligenz, cleveres World-Building und einen geschickten Erzählungsaufbau.
AUF SEE | Theresia Enzensberger | ROMAN Hanser | München 2022 | 272 S. | €24,00
Annika Depping
ist seit einem Praktikum im Sommer 2014 im Team des Literaturhauses Bremen. Inzwischen leitet sie die Textredaktion des Literaturmagazins. Sie hat in Bremen Germanistik mit Schwerpunkt Literaturwissenschaften studiert und liest am liebsten in ihrem Schrebergarten. Über ihre Leseeindrücke schreibt sie auch im Online-Magazin Bücherstadt Kurier.
Mehr über unser Magazin und das Team kannst du übrigens hier erfahren.