Wer diese Graphic Novel von Emil Ferris aufschlägt, blickt in den mit Kugelschreiber und Filzstift bemalten Collegeblock eines jungen Mädchens. Es ist das Tagebuch von Karen Reyes, die am liebsten ein Wolfsmensch wäre. In dieser Gestalt zeichnet sie sich selbst und nimmt uns mit in das raue Chicago der 60er Jahre. Ihre Liebe für Comic-Gruselhefte und Horror B-Movies ist nicht zu übersehen, doch das Erschreckendste und Grausamste sind nicht ihre Zeichnungen oder ihre Fantasie – es lauert in der Realität, die sie umgibt.
Eigentlich hätte Karen mit ihrem Alltag schon genug am Hut. Sie ist eine Außenseiterin, wird in der Schule gemobbt und teilweise sogar angegriffen. Deshalb möchte Karen ein Monster sein. Weil Monster stark sind und niemandem gefallen müssen. Zu Hause wird Karen akzeptiert, wie sie ist, aber einfach ist es dort auch nicht immer. Sie wächst mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder in armen Verhältnissen auf. Die Familie hält zusammen, aber um sie herum herrscht viel Elend. Karen kommt früh mit Drogen, Kriminalität und Prostitution in Berührung. Und dann erschießt sich ihre Nachbarin auch noch angeblich selbst.
Karen beginnt Nachforschungen anzustellen und stößt auf die dunkle Vergangenheit ihrer Nachbarin. Diese wurde 1920 als Jüdin in Berlin geboren. Über ihre mittellose, psychisch kranke Mutter geriet sie als Kind in die Prostitution. Als junge Erwachsene entging sie nur knapp dem Konzentrationslager. Damit gibt die Graphic Novel einer Gruppe von Verfolgten im NS-Regime Raum, die häufig vergessen wird. Unter der Bezeichnung „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ wurden in der NS-Zeit viele Prostituierte in Konzentrationslager gebracht. Erst 2020 wurde diese Gruppe vom Bundestag als Opfergruppe anerkannt.
Die ernsten Themen der Erzählung werden in einem beeindruckenden Zeichenstil vermittelt, der durch die Kugelschreiberlinien unglaublich detailliert ist. Der persönliche und fantasievolle Stil schafft es, Emotionen und Eindrücke genau an den richtigen Stellen auf den Punkt zu bringen. Während manche Sequenzen eher schlicht gezeichnet sind, breiten andere sich über ganze Doppelseiten aus und erinnern teilweise an Gemälde der Neuen Sachlichkeit. Dazu sind überall persönliche Hinweise und Anspielungen der liebenswerten Erzählerin zu finden, wie es nur in einem gezeichneten Collegeblock-Tagebuch möglich ist.
Diese Graphic Novel ist kein Geheimtipp in der Comic-Szene. Für alle, die in der graphischen Literatur aber noch nicht allzu bewandert sind, ist sie eine monstermäßig gute Gelegenheit, die Möglichkeiten dieses Mediums kennenzulernen.
AM LIEBSTEN MAG ICH MONSTER | Text und Zeichnungen: Emil Ferris | Übersetzung: Torsten Hempelt | GRAPHIC NOVEL Panini | Stuttgart 2018 | 420 S. | €39,00
Carmen Simon Fernandez
kam 2019 aus dem Rheinland nach Bremen, um hier Transnationale Literaturwissenschaft zu studieren. 2020 hat sie mit anderen Studierenden aus ihrem Master den Literaturblog blogsatz aufgebaut und seitdem im Literaturhaus Bremen gearbeitet. Nun verschlägt es sie wieder zurück ins Rheinland. Privat liest sie am liebsten etwas mit Monstern.
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