Kann Herkunft, ähnlich wie Geschlecht, eine fluide Größe sein?
Dieser Frage geht der Debütroman Identitti der Kulturwissenschaftlerin und Sachbuchautorin Mithu Sanyal auf rund 430 Seiten mit einer Schlagkraft nach, die noch weit nach dem Leseerlebnis ihre Wirkung zeigt, weil er sich mitten in einer hochsensiblen Debatte rund um Vorstellungen und Definitionen von kultureller Identität platziert.
Die Protagonistin Nivedita Anand, selbst mixed-race und PoC, hat in ihrer Professorin für postkoloniale Studien an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf endlich ein role model gefunden, wie es für PoCs in der deutschen Universitätskultur immer noch schwierig zu finden ist: Die Dozentin Saraswati – selbst PoC – beleuchtet in ihren Vorlesungen mit einer nahezu narzisstisch anmutenden Selbstüberzeugung nicht nur race, sondern auch sex, gender und class und dekonstruiert dadurch auf bereichernde Weise den öffentlichen Diskurs, in dem es nämlich vor allem auch um eines geht: Selbstermächtigung. Endlich entwickelt Nivedita abseits dessen, was die Menschen in ihrem Umfeld als „Indischsein“ und „Nicht-Indischsein“ deklarieren, eine eigene Position ohne Fremdzuschreibungen.
Für Nivedita, die unter dem Namen „Identitti“ regelmäßig über ebendiese Suche nach einem richtigen Ort in der Welt und ihrer Gesellschaft bloggt, ist Saraswati ein Idol, weil sie ihren inneren Konflikten eine hörbare Stimme verleiht. Umso verletzender ist es für sie, als Saraswatis Vergangenheit aufgedeckt wird, die beweist, dass diese eigentlich weiß ist und als Sarah Vera Thielmann geboren wurde.
Die Enthüllung dieses Skandals liefert der Roman direkt zu Beginn, wodurch er sich anschließend weniger auf das Skandalöse der Situation beschränkt, sondern vielmehr durch Einblicke in Niveditas Innenleben versucht, die Fragen nach dem „Warum?“ zu klären. Was bedeutet es für sie, wenn die Person, die ihr die ganze theoretische Bandbreite der postkolonialen Forschung beigebracht und durch ihre eigene Involviertheit zu ihrer Mentorin wurde, plötzlich unter dem Verdacht der kulturellen Aneignung steht? Wird deswegen die Bereicherung, die Nivedita durch sie erfahren hat, wertlos?
Das eigentlich Überraschende des Romans entwickelt sich jedoch erst nach der Enthüllung des Weißseins von Saraswati: Während viele von Niveditas Kommiliton*innen Saraswatis Tat als unverzeihlichen Fehler bewerten, entwickelt sich bei Nivedita das Verlangen, ihre Professorin mit ihrer Wut zu konfrontieren und dadurch gleichzeitig den Dialog mit ihr einzugehen. Dabei kristallisiert sich immer mehr heraus, dass sowohl Nivedita als auch Saraswati viel mehr an der Frage interessiert sind, wie sie durch Nähe statt durch Distanz produktiv mit diesem Konflikt rund um die Frage einer „transracial identity“ umgehen können. Mithu Sanyal schafft es in allen Bereichen des Romans, seine gedanklichen Grenzen stets neu auszutarieren, ohne sie zu ignorieren, um vor allem dem Prozess einer Suche nach Antworten endlich einen Raum zu geben, der offen und groß genug ist.
Carla Bühl
studiert an der Universität Bremen Transnationale Literaturwissenschaften im Master. Als Mithu Sanyal im Rahmen der Debütant*innenlesungen der diesjährigen LiteraTour Nord in Bremen zu Gast war, übernahm sie zusammen mit einer Kommilitonin die Moderation.