Klug, nahbar und dennoch von einer abstrakten Ebene aus über das Schreiben zu sprechen, ist eine Kunst für sich. Iris Wolff beherrscht sie. Poetikvorlesungen sind gemeinhin nicht das, was im Buchhandel aus den Regalen gerissen wird. Aber die Einladung ins Ungewisse hat das Zeug dazu. Wir leben in einer Zeit, die der Literatur in immer schnellerer Folge Antworten und Positionsbestimmungen auf aktuelle Herausforderungen abverlangt. Iris Wolff verweigert sich diesem Anspruch, weil Eindeutigkeit die Grundideen der Kunst unterläuft. Sie fragt zurück: „Könnten nicht auch einmal Politik und Gesellschaft auf Literatur antworten?“ Was das Ergebnis wäre, macht Iris Wolff auf nur 67 Seiten deutlich. Ein Bild von Welt, das komplexer, durchlässiger und viel reicher ist als alles, was uns sonst so unter die Finger kommt.
Iris Wolff entwirft ihre Poetik vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrung. Ihre Kindheit in Siebenbürgen und im Banat, das Vielvölkergemisch in Rumänien und die Auswanderung nach Westdeutschland haben sie früh gelehrt: Zuschreibungen von Außen laufen stets ins Leere. Dem gegenüber steht ihr Anspruch, sich selbst und dem Publikum Perspektiven zuzumuten, die über den eigenen Erfahrungshorizont hinausgehen.
Das Handwerkszeug dazu? Stille. Beobachten. Zurücknahme der eigenen Position. Präzises Sehen. Dann gelingt er, der Aufbruch ins Ungewisse. Ganz nebenbei führt uns Iris Wolff auch durch die Literaturgeschichte. Von Nabokov über James Baldwin bis zu Adam Zagajewski zu all jenen, die „im Licht eines Streichholzes“ betrachten, was ist. Erstaunlich viel wird da erhellt. Nicht zuletzt die Gewissheit, dass es niemals genügt „die Welt so wahrzunehmen, wie ich es gelernt habe“. Eine unbedingte Lektüreempfehlung – nicht nur für die Fans von Iris Wolff!
EINLADUNG INS UNGEWISSE | Iris Wolff | ESSAY 2024 | Dresden Thelem Universitätsverlag | 71 S. | €14,80
Silke Behl
ist Journalistin, Autorin und Moderatorin. Sie war lange Jahre in der Kulturredaktion von Radio Bremen tätig und ist außerdem im Vorstand des Literaturhaus Bremen.