Auch Paris hat seine Plattenbauten, in den Vorstädten und im Südosten der Stadt im 13° Arrondissement. In den 1970er Jahren ist dort ein neues Viertel mit 28 Hochhäusern als ehrgeiziges urbanistisches Projekt entstanden, zu dem auch die Les Olympiades genannten Wohntürme gehören, die das Epizentrum von Doan Buis neuem Roman La Tour bilden. Ab Mitte der 1970er Jahre sind dort aus Asien und insbesondere aus Vietnam stammende Familien untergekommen, so auch Victor Thruong und seine Frau Alice nach ihrer Flucht aus dem Vietnamkrieg. Deren Geschichte wird in dem Roman a-linear in verschiedenen Anläufen erzählt. Dazwischen treffen wir auf Clément, der den sozialen Aufstieg nicht schafft, sich am Ende als Reinkarnation des Hundes von Michel Houellebec fühlt und auf dem Boden seiner Wohnung Nummer 510 schläft. Wir lernen den Senegalesen Virgile kennen, einen Geschichtenerzähler und passionierten Proust-Leser, der in der Tiefgarage des Hauses lebt.
Neben diesen und vielen anderen Figuren, die das migrantische Spektrum der französischen Gegenwartsgesellschaft repräsentieren, ist das Hochhaus selbst Protagonist von Doan Buis Roman. Dieser zeigt auch, wie wenig nach 50 Jahren von dem urbanistischen Projekt und dessen sozialer Energie geblieben ist. Insofern ist dieser auch ein Roman über das Wohnen und dessen kulturelle Dimension, darüber, was Menschen erleben, wenn sie nach Europa migrieren und in Plattensiedlungen landen. Victor Truong erlebt die grauen Vertikalen der Hochhäuser wie aride Mondlandschaften. Er verabscheut die engen, stinkenden Treppenhäuser und die Klaustrophobie provozierenden, soziale Kontakte erzwingenden Aufzüge. Sie lassen ihn den Verlust der vietnamesischen Heimat, deren traditionelle Architektur horizontal in den Raum greift, noch heftiger empfinden. Der enge Zusammenhang zwischen Wohnen, Architektur und den Menschen wird auch über die Kapitelüberschriften betont, die mit Ascenseur (1) bis Ascenseur (6) (Aufzug 1 bis 6) auf das Hochhaus verweisen und alternierend Namen der Protagonisten als Titel wählen.
Natürlich ist dieser Roman auch eine Referenz auf den im gleichen Zeitraum wie die Hochhäuser entstandenen Roman von Georges Perec, La vie mode d’emploi (1978, dt. 1982 Das Leben Gebrauchsanweisung). In 99 Kapiteln puzzelt sich dieser durch ein Pariser Wohnhaus, erzählt von dessen Bewohnern, deren Gegenständen und dem Zustandekommen eines Kunstwerks. Doan Buis Roman hat nicht die innovatorische Kraft von Perecs Roman, seine Bedeutung liegt anderswo: Er verdeutlicht nachdrücklich und unpathetisch, wie Wohnverhältnisse für migrantische oder sozial prekär lebende Menschen Fremdheit immer wieder neu schaffen. Aufzüge und Treppenhäuser zeigt er nicht nur als Orte des Durchgangs, sondern als beklemmende Orte entfremdeter sozialer Kontakte. Der Text besticht durch den präzisen und empathischen Blick auf seine Figuren.
Das Leben in diesen Türmen von Paris-Babel schildet Doan Bui mit feiner Ironie und spürbarer Freude am Offenlegen von skurrilen Details. Victor etwa ist besonders vom Subjonctif II fasziniert, der im Gegenwartsfranzösischen kaum mehr eine Rolle spielt, seine Frau Alice hasst François Mitterrand, dessen Sozialismus für sie eine Reminiszenz an das kommunistische Regime Nord-Vietnams ist, aber sie liebt Justin Bieber. Ihre Tochter Anne-Mai bleibt in einer destruktiven Bewunderung für blonde Frauen gefangen und schützt sich vor der rauen Wirklichkeit mit zunehmender Sehschwäche. Viele Leben also stecken in dem Haus mit seinen vier Aufzügen, 37 Etagen, 296 Fenstern. Wer nicht auf die deutsche Übersetzung des Romans warten möchte, liest ihn auf Französisch, freut sich über ein kluges, stilistisch gelungenes Buch über das Frankreich der Gegenwart und lernt ganz nebenbei viel auch über Vietnam.
Elisabeth Arend
ist Literaturwissenschaftlerin, bis 2021 Professorin für Romanische und transnationale Literaturwissenschaft am Fachbereich 10 der Uni Bremen. Seit vielen Jahren ist sie Mitglied der Leitung des Festivals globale° und Moderatorin von Lesungen für das Institut français Bremen.