Reich gleich fleißig, arm gleich faul? Man muss sich nur hart genug anstrengen, dann „schafft“ man es auch? Eine harte Grenze zwischen gesellschaftlichen Klassen gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr? Soziale Milieus durchfließen sich und jeder Mensch hat dieselben Chancen?
Wer das glaubt, der sollte unbedingt dieses Buch lesen. (Und alle anderen auch.) Es ist der buchstäbliche Nachweis, dass die obigen Behauptungen und Fragen negiert werden müssen. Immer noch. Auch die deutsche Gesellschaft besteht nach wie vor aus sozialen Klassen, deren Zugehörige es vielleicht schwerer denn je haben, von einer in die andere zu wechseln.
Darüber schreiben in der Anthologie, die Ullstein-Lektorin Maria Barankow und der freie Autor Christian Baron initiierten, insgesamt 14 Autor*innen (darunter Sharon Dodua Otoo, Anke Stelling und Schorsch Kamerun, um nur einige zu nennen) – und das allesamt in sehr persönlichen Texten über ihre Herkunft, über Geld und Bildung, über berufliche Einschränkungen und Möglichkeiten, über Vorurteile, über kulturelle Unterschiede, über Scham, über die Schwierigkeit, unsichtbare Mauern einzureißen.
„Lehrer oder Unternehmensberaterinnen haben heute fast keinen direkten Kontakt mehr zu Bauarbeiterinnen oder Altenpflegern“, schreiben die Herausgebenden schon in ihrem Vorwort. In den einzelnen Beiträgen wird dann deutlich, wie vielschichtig soziale Zugehörigkeiten sind. Wie tiefgehend Ausbeutung in einer zutiefst von kapitalistischen Strukturen durchwucherten Gesellschaft reicht.
Die Lektüre der divers ausgewählten Beiträge schafft einen feinsinnigeren Blick für Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, Benachteiligungen. Leider – soviel sei vorweggenommen – macht die Textsammlung auch ziemlich deutlich, dass wir noch weit entfernt sind von sozialer Gerechtigkeit. Keine „Beruhigungslektüre“ also (auch wenn einzelne Beiträge sich dem Thema durchaus auch mit Leichtigkeit nähern), aber dennoch oder gerade deswegen absolut lesenswert – denn eine Bewusstmachung über den Stand der Dinge ist allemal hilfreicher als ein Augenschließen.
KLASSE UND KAMPF | Maria Barankow und Christian Baron (Hrg.) | ANTHOLOGIE Ullstein | Berlin 2021 | 224 S. | € 20,00
Rike Oehlerking
ist Bildredakteurin bei uns im Literaturmagazin Bremen. Sie arbeitet darüber hinaus als freie Redakteurin für das Bremer Literaturkontor und andere Auftraggeber, schreibt Texte, macht Fotos und wühlt sich durch das alltägliche Geschäft aus E-Mails, Meetings und Organisation.
Wenn sie mal nicht an ihrem Schreibtisch sitzt, ist sie liebend gern draußen mit Hund und VW-Bus unterwegs. Bei ihren Ausflügen sind natürlich auch immer gute Bücher und ihre Kamera mit im Gepäck.
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