„Das Private ist politisch“, überschrieben einst Shulamith Firestone und Anne Koedt einen Artikel von Carol Hanisch in der zweiten Textsammlung des Women‘s Liberation Movement. Doch am Ende von Kapitel 7 in Eva Müllers autofiktionaler Graphic Novel Scheiblettenkind ist es Karl Marx, der in einem schwanenförmigen Tretboot sitzt und feststellt, dass Menschen ihre eigene Geschichte immer nur unter vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen machen.
Die Verhältnisse, in denen Eva Müllers Protagonistin aufwächst, sind keine, an deren Ende automatisch ein abgeschlossenes Kunststudium winkt. Sie wächst in den 1980er und 1990er Jahren in einer westdeutschen Arbeiterfamilie auf. Ausflüge mit dem Auto führen über die Grenze zum McDonald‘s auf der Tankstellenmeile im luxemburgischen Remich. Den Sommer verbringt sie zwar wie viele andere Teenager*innen im Freibad, allerdings steht sie dort an der Fritteuse. Später kellnert sie in einem feinen Restaurant oder stanzt im Akkord Türdichtungen für Autos in der gleichen Fabrik, in der auch ihr Onkel arbeitet. Dass die Heranwachsende ihre Liebe zu Literatur und Kunst entdecken kann, verdankt sie neben glücklichen Fügungen vor allem ihrer eigenen Hartnäckigkeit.
Doch Eva Müller gelingt mit Scheiblettenkind weit mehr als die eindrückliche Erzählung einer persönlichen Emanzipationsgeschichte. Wer sich mit realen Lebensverhältnissen im Klassismus beschäftigen möchte, ohne dazu am Feierabend noch in wuchtige theoretische Abhandlungen oder den nächsten Marx-Lesekreis einsteigen zu müssen, findet in dieser klug und immer wieder auch humorvoll erzählten Graphic Novel zugleich eine klare politische Auseinandersetzung mit Klasse, Armut und Ausgrenzung.
Dies liegt weniger an den pointiert eingestreuten Marx-Zitaten am Ende eines jeden Kapitels, die der alte Rauschebart aus Trier persönlich beim Yoga, an der Supermarktkasse oder auf dem Fahrrad zum Besten gibt. Eva Müller ist vor allem eine hervorragende Erzählerin, und so zeichnet sie über knapp 300 Seiten anhand der Alltags- und Familiengeschichte ihrer Protagonistin exemplarisch das Porträt einer ganzen Klasse.
Besonders bewegt haben mich unter anderem die Geschichte der Großmutter, für deren Zahnleiden die Herrschaftsfamilie eine schonungslos pragmatische Lösung parat hat, und die Szene, in der die Protagonistin begeistert den Britpop-Hit Common People von Pulp abfeiert, sehr zum Unverständnis ihrer bürgerlichen Punkerfreund*innen. Klasse wirkt hier als bewusst oder unbewusst internalisierte Erfahrung im Verhalten der verschiedenen sozialen Schichten fort. Wann immer die Protagonistin die gläsernen Grenzen ihrer Herkunftsverhältnisse durchbricht, wird sie von einer gehässigen Schlange heimgesucht: „Du wirst erwischt werden und zurückgeschleppt in das kleine Haus deiner Eltern, in das kleine Dorf, in das auch du gehörst.“
Scheiblettenkind ist eine ebenso aufrüttelnde wie unterhaltsame Graphic Novel, die nicht zuletzt auch mit ihren tollen Bleistiftzeichnungen besticht. Das Sahnehäubchen setzt an dieser Stelle der Verlag mit einer wertschätzenden Aufmachung der Originalausgabe als großformatiges Hardcover.
SCHEIBLETTENKIND | Eva Müller | GRAPHIC NOVEL Suhrkamp Verlag | Berlin 2022 | 280 S. | € 28,00
Jeff Hemmer
geboren 1982 in Luxemburg, lebt seit 2009 in Bremen und arbeitet als freiberuflicher Comiczeichner, Illustrator und Workshopanbieter. Aufgewachsen in einem Winzerdorf am luxemburgischen Moselufer, zog es ihn zunächst zum Geschichtsstudium nach Schottland. Später führte sein Weg ihn nach Bremen an die Hochschule für Künste. Im gleichen Jahr erschien mit Spring Forward, Fall Back sein erster Comic als monatliche Serie in der luxemburgischen Wochenzeitung Woxx. Beruflich war Jeff Hemmer jedoch lange im pädagogischen Bereich verwurzelt und hat sich erst 2020 dafür entschieden, sich auf Comics zu konzentieren.
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