Maarten Asscher hat ein Problem: Er kann nachts einfach nicht einschlafen. Er hat schon so ziemlich alles probiert, von Milch mit Honig über Baldrian bis hin zu Melatonin. Doch nichts kann seiner Schlaflosigkeit ein Ende bereiten. Bis ihm schließlich sein Bruder einen Tipp gibt. Er empfiehlt Maarten, sich vor dem Einschlafen an den Ort und Zeitpunkt zurückzudenken, an dem er zuletzt gut schlafen konnte. Daraufhin begibt sich Maarten jeden Abend in Gedanken in die Zeit seiner Kindheit zurück und nimmt die Leser mit auf einen Rundgang durch seine Erinnerung an das Haus seiner Großeltern.
Bei seinen nächtlichen Begehungen durch das Haus in der Pensford Avenue 34 fungieren Tagebucheinträge, Fotos und Notizen seiner Oma als Leitfaden. Jedes Kapitel des Buches erkundet einen Raum in dem Haus und Asscher verwebt meisterhaft detaillierte Beschreibungen der Einrichtung mit lebhaften Erinnerungen an prägende Ereignisse aus seiner Kindheit, Jugend und Studienjahren. Durch seine Augen erleben wir das Haus, den Garten und die Persönlichkeiten seiner Großeltern, die sich als liebenswerte, aber dennoch sehr unterschiedliche Menschen herausstellen.
Die Charakterisierung seiner Großeltern ist besonders berührend. Die Großmutter, eine ehemalige Journalistin, ist noch heute ständig in Bewegung. Sie erhält die Erinnerungen an ihre Flucht vor dem Holocaust durch eigene Texte am Leben und teilt diese auch gelegentlich in Vorträgen. Der Großvater, ein Ingenieur mit einer Leidenschaft für Kunst und Technik, offenbart eine tiefe Verbundenheit zu Gemälden und technischen Büchern.
Zwischen den Zeilen vermag der Leser die familiären Konflikte der Familienmitglieder auszumachen. Man hat während des Lesens das Gefühl, nicht nur den Autor, sondern auch seine Familienmitglieder näher kennen zu lernen. So erfährt man zum Beispiel, wie seine jüdischen Großeltern dem Holocaust entkommen konnten, obwohl sie eine Zeit lang im Durchgangslager Westerbork verbringen mussten. Oder welcher Grund hinter ihrer plötzlichen Auswanderung nach England stand.
Diese Erzählung über Überleben, Widerstand und die Kraft der Familie ist nicht nur historisch bedeutend, sondern auch zutiefst persönlich. Das Buch, ursprünglich auf Niederländisch verfasst und ins Deutsche übersetzt, fesselt den Leser mit seiner tiefsinnigen Erzählung und bietet eine eindringliche Perspektive auf eine vergangene Zeit, die dennoch eine aktuelle Relevanz und Bedeutung für die Gegenwart behält. Das Buch ist jedem zu empfehlen, der sich daran erfreut eine nächtliche Wanderung durch den Gedankenpalast von Maarten Asscher zu unternehmen.
DAS HAUS MEINER KINDHEIT | Maarten Asscher | Übersetzung: Marlene Müller-Haas | ROMAN Luchterhand | München 2023 | 256 S. | € 24,00
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