Lesetipp: Vanessa Guinan-Bank empfiehlt

Buchcover von Why We Matter von Emilia Roig

Emilia Roig kämpft seit langem gegen Diskriminierung und Unterdrückung jeglicher Art. Auch auf Instagram kombiniert sie persönliche Posts mit aufklärerischen und erklärenden Beiträgen – unter anderem dazu, wie internalisierter Sexismus, Rassismus, Klassismus und Homophobie unser aller Denken und Handeln beeinflusst.

Vor kurzem hat Emilia Roig ein Foto auf Instagram hochgeladen. Es zeigt, wie ihre Partnerin sie küsst. Man könnte nun erwarten, dass ihre fast 18 Tausend Follower kein Problem mit einem Foto von queerer Liebe haben – es vielleicht sogar zelebrieren würden. Dem ist nicht so. Roig legte in einer Grafik dar, dass jedes Mal, wenn sie ein Foto mit ihrer Partnerin postet, eine hohe Anzahl an Menschen ihrem Account entfolgt.

Dies ereignete sich zuletzt nach der Veröffentlichung von why we matter, aber eine ähnliche Geschichte hätte auch darin erzählt werden können. Denn in ihrem Buch illustriert Emilia Roig auf außerordentlich anschauliche Weise gesellschaftliche Strukturen und Systeme der Unterdrückung durch ihre persönliche und Familiengeschichte.

So erzählt sie beispielsweise von ihren engen Mädchenfreundschaften. Mit ihren Freundinnen fühlte sie sich sehr nah und verspürte als Jugendliche schon ein gewisses Begehren. Trotzdem: „Damals kam es mir nie in den Sinn, dass ich etwas anderes als heterosexuell sein könnte.“ Erst nach ihrem eigenen queeren Erwachen erfuhr sie, dass eine Reihe ihrer Familienmitglieder schwul, lesbisch oder bi sind. Selbst ihre Mutter und Tante führten jeweils jahrelange Beziehungen mit Frauen. Gesprochen wurde darüber nie.

Diese Geschichten sind vielmehr als nur Anekdoten. Mit ihnen verdeutlicht Roig gesellschaftliche Mechanismen, die bewirken, dass Schuld und Scham internalisiert werden. Sie analysiert gesellschaftliche Verhältnisse. Indem sie von ihren eigenen Erfahrungen und denen ihrer Familie und Umgebung berichtet, zeigt sie, wie Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat miteinander verwoben sind:

„In der Familie meiner Mutter wurde das Tabu rund um Homosexualität durch den Rassismus verstärkt, durch das Bedürfnis – die Notwendigkeit – nicht aufzufallen.“

 

Die Familiengeschichte der Autorin birgt viele solcher Überschneidungspunkte. Ihre Mutter, in Martinique geboren, deren Vorfahren Sklav*innen waren. Ihr Vater wuchs als Pied-noirs auf, gehörte also zur kolonialen Klasse weißer Algerienfranzosen. Ihre jüdische Großmutter sagte ihr, sie müsse diesen Teil ihrer Herkunft verstecken.

Ihr Großvater war jahrelang aktiv im Front National, der rechtsradikalen Partei Frankreichs. Ihre andere Großmutter wiederum verbot ihren Kindern zuhause Kreolisch zu sprechen, um sich der weißen französischen Gesellschaft anzupassen. Und schließlich Emilia Roig selbst, die in Frankreich geboren und aufgewachsen ist, in Berlin das Center for Intersectional Justice gründete und mit ihrem Sohn in Deutschland lebt.

Nicht weiter verwunderlich, dass das Buch tief in die Systeme von Diskriminierung und Unterdrückung eintaucht. Trotzdem verliert sich Emilia Roig nie in theoretischen und akademischen Ansätzen. Die Autorin greift auf einen großen Schatz an Forschung, Theorien und Kenntnissen zurück, aber ihre Sprache bleibt immer klar. Dabei verdeutlichen auch die persönlichen Erzählungen höchst einfühlsam, dass Strukturen wie Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus keine abstrakten Gebilde sind, sondern reale und oft grausame Auswirkungen haben.

Nicht selten lösen diese Strukturen unbewusste Prozesse aus. Roig legte das am Beispiel des besagten Instagram-Fotos nahe. Es werde zwar akzeptiert, dass jemand queer sei, aber die Person solle trotzdem unsichtbar bleiben. Selbst in Kreisen, die für soziale Gerechtigkeit kämpfen, komme es häufig vor, dass offene queere Liebesbekenntnisse Menschen beunruhigen.

Es bleibt also noch viel zu tun, um internalisierte Unterdrückungsmechanismen zu überwinden – das Buch von Emilia Roig zu lesen, wäre schon mal ein guter Anfang.

WHY WE MATTER. DAS ENDE DER UNTERDRÜCKUNG. | Emilia Roig | SACHBUCH Aufbau | Berlin 2021 | 397 S. | €22,00


Vanessa Guinan-Bank

wurde 1992 in Bremen geboren. Sie studierte Politikwissenschaften, Islamwissenschaften und International Affairs in Freiburg im Breisgau, Kairo und Berlin. Sie verschlingt seit der Kindheit Bücher und konnte ihre Leidenschaft für Literatur unter anderem mit Autor*inneninterviews und Buchbesprechungen für Radio Bremen, sowie beim internationalen literaturfestival berlin (ilb) ausleben. Heute lebt sie wieder in Berlin und arbeitet als freie Journalistin.

Porträt von Vanessa Guinan-Bank
© Jana Ciernioch

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