blogsatz ist ein Blogprojekt, das in Kooperation zwischen dem virtuellen Literaturhaus und dem Master Transnationale Literaturwissenschaften an der Universität Bremen entsteht. Im Herbst wird der Blog außerdem jedes Jahr zum Festivalblog. Dann geht es hier um die globale°, die eingeladenen Autor*innen und ihre Bücher, die Veranstaltungen und die Hintergründe. Verena Bracher aus dem Redaktionsteam des Blogs gibt uns hier ihren persönlichen Lesetipp zum diesjährigen Festival.
Während des Literaturfestivals globale°, das wieder in der ersten Novemberwoche in Bremen stattfindet, werden Bücher in den Mittelpunkt gerückt, die über Ländergrenzen hinausblicken und Verbindungsstellen in ihren Geschichten schaffen. Das russische Testament von Shumona Sinha nimmt sich genau dieser Thematik an: Wie Literatur über Raumgrenzen und Kulturräume hinweg wirkt und wie sie ein Zufluchtsort für die einen und das persönliche Schreckgespenst der anderen sein kann. In ihrem Roman schildert sie die Geschichte rund um den Brief einer jungen Bengalin aus Kalkutta, der nach Sankt Petersburg zu einer alten Frau in einem Seniorenheim geschickt wird. Ein Brief, der der Suche nach einem Verleger und seinem literarischen Vermächtnis dient. Die Veröffentlichungen dieses Verlegers sind es, die der jungen Frau den Ausbruch aus ihrer von den Eltern und Genossen beengten Lebenswelt ermöglichen, während sie für die alte Frau die Katalysatoren einer überschatteten Familiengeschichte sind.
Es ist die Geschichte zweier Einzelschicksale, die als ihren Dreh- und Angelpunkt den größeren Kosmos der russischen surrealistischen Literatur und ihrer Übersetzungen haben.
Die Protagonistinnen reihen ein Umbruchs-Ereignis ihres Lebens an das nächste – politische Umwälzung, Wut- und Mutausbrüche, prägende Begegnungen und Verliebtheiten. Sie geben Einblicke in einschneidende Momente ihres Lebens und spinnen ein detailfixiertes Gewebe aus Personen und Erlebnissen in einer vermenschlichten Umgebung. An der Gegenüberstellung der beiden Frauen übt sich der Blickwechsel von einer von Umbrüchen geprägten und Orientierung suchenden Jugend und einer weiseren, doch sich vor der Vergangenheit wegduckenden Haltung des Alters.
Dabei ist es nicht nur das Erzählte, das diesen Roman ausmacht. Es sind vielmehr die zahlreichen Lücken und Unsicherheiten, die sich zwischen den in starken Farben geschilderten Momenten ergeben. Dies ist eben eines jener Bücher, das die Lesenden dazu herausfordert, in ihrer eigenen Ausmalung Brücken zu bauen, Kontexte zu imaginieren und Geschildertes weiterzuspinnen. Es ist eine bilddichte Lektüre, die dazu einlädt, Literatur als einen eigenen Akteur wahrzunehmen – und ein genussvoller Einstieg in die diesjährige globale°.
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Verena Bracher
ist nach einem Kultur- und Medienwissenschaftsstudium nun als Literaturwissenschaftlerin im Masterstudium der Uni Bremen. Mit viel Begeisterung für das Studierendenleben, einem stetig wachsenden möchte-ich-noch-lesen Stapel und ausgeprägter Kinoleidenschaft verbringt sie die verregneten Bremer Wetter-Tage. Besonders mit autofiktionalen Texten beschäftigt sie sich viel und genießt vor allem referenzgeladene und sprachsensible Schreibstile. Von Beginn an war sie beim Aufbau des Literatublogs blogsatz mit dabei.