Bremen – diese Stadt, meine Wahlheimat, habe ich durch die Recherchen für meinen Roman Swinging Bremen neu kennengelernt. Jede Fassade hat eine Geschichte zu erzählen, jeder Straßenzug ist ein Buch. Zum Glück ist heute nicht mehr 1941, aber die Spuren sind noch immer zu finden:
Samstags gingen alle deutschen Jungen und Mädchen zur Hitler-Jugend, sammelten für das Winterhilfswerk oder buddelten in den Wallanlagen. Johnnys Mutter aber fand, ihr Sohn solle besser zuhause helfen. Heute schickte sie ihn mit seiner kleinen Schwester Ida auf den Markt vor dem Rathaus. Der Weg führte vom Spanischen Platz am Eingang des Bürgerparks durch die Parkallee, die hier jetzt Franco-Allee hieß, unter den Eisenbahnschienen hindurch am Remberti-Stift vorbei bis zur Bischofsnadel.
Ida hüpfte unbeschwert neben ihm durch die Schneereste. Einmal zeigte sie mit großen Augen auf eine Häuserreihe ohne Dach.
Johnny nahm sie an die Hand. „Das war eine Brandbombe. Schau mal, überall Trümmer und kaputte Möbel im Vorgarten.“
Ida zögerte. „Und die Menschen?“
„Die waren alle im Bunker, denen ist nichts passiert!“ Er zog sie weiter und hoffte, dass es stimmte. Bislang waren Schwachhausen und die Altstadt nahezu verschont geblieben. Am Hafen, auf den Werften und bei den Fabriken hatten die Luftangriffe mehr zerstört, hatte er gehört. Vor dem Krieg hatte ihn sein Vater einmal mit nach Walle genommen, bis zur Rolandmühle mit den riesigen Getreidesilos und zur A.G. Weser, wo himmelhohe Schiffe im Dock lagen. Die niedrigen Häuser der Arbeiter waren Puppenhäuser daneben. Wie es da wohl jetzt aussah?
Kaum waren die beiden Geschwister durch die Wallanlagen, staunte Ida: „Und was passiert da? Noch eine Bombe?“ Eine tiefe Grube klaffte auf dem größten Teil des Platzes hinter dem Dom.
„Nein, hier bauen sie einen großen Tiefbunker, damit alle Leute in der Altstadt sicher sind vor den Bomben. So ähnlich wie der bei uns im Bürgerpark, nur eben unter der Erde.“
„Aber war hier auf dem Brunnen nicht mal eine Statue?“, wunderte sich Ida weiter.
„Stimmt, die haben sie gleich zu Kriegsbeginn eingeschmolzen.“
„Och, schade“, Ida verschränkte enttäuscht ihre Arme, „die war so hübsch.“
„Und den Roland haben sie eingemauert, damit ihm nichts passiert.“ Johnny zeigte auf einen massiven Klinkerklotz neben dem Marktplatz.
„Der sieht gar nicht mehr beeindruckend aus“, entrüstete sich Ida weiter.
„Dafür ist das Rathaus immer noch schön. Guck mal die lustigen Bilder da oben.“ Gemeinsam betrachteten sie die prächtigen Verzierungen über den Arkaden und suchten wie früher Gluckhenne und Küken.
Birgit Köhler
wurde 1972 geboren. Sie hat nach dem Studium der Geschichte und Kulturwissenschaften in Hamburg und Bremen ein Zeitungsvolontariat in Bremerhaven absolviert. Seit vielen Jahren schreibt sie Lyrik und Prosa und hat eine Biographie über die Bremer Sozialsenatorin Hilde Adolf verfasst. Im September 2024 wird ihr Buch Swinging Bremen im Kellner Verlag erscheinen, ein fiktiver Roman über jazzliebende Jugendliche in der Hansestadt während des Zweiten Weltkrieges, basierend auf Zeitzeugenberichten. Der Text ist ein erster Auszug aus dem bislang unveröffentlichten Manuskript.