Ich dachte: Wir sind privilegiert. Andere Leute in Heilshorn – im Landkreis Osterholz und darüber hinaus – sparten emsig und kauften Einbauküchen und Volkswagen auf Raten, während meine Eltern das Geld in großen Bündeln von der Bank holten.
Wir nahmen den Neuwagen in Goldmetallic-Lackierung, zahlten bar und bekamen die Fußmatten gratis dazu. Mit allen Geschwistern fuhren wir abends ins Restaurant, wo wir Filet Wellington bestellten, Forelle Müllerin und zum Dessert Birne Helene. Im Urlaub stiegen wir in französischen Luxushotels in Zimmern mit Meerblick ab.
Zu Hause grub mein Vater ein riesiges Loch in den Garten, baute einen Pool, und meine Mutter pflanzte weiße Rosen drumherum.
„Sind wir reich?“, fragte ich
„Reich sind wir nicht“, antwortete mein Vater, und meine Mutter fügte hinzu: „Aber wohlhabend.“
Helmut Kohl wurde Bundeskanzler, verkündete eine geistig-moralische Wende, und auch für uns schlug die Stunde der Wahrheit. Briefe von Amtsgericht, Finanzamt und Gerichtsvollzieher landeten bei uns im Briefkasten und wanderten ungeöffnet, mit einem verächtlichen Kommentar, in die Küchenschublade.
Als unser Haus unter den Hammer kam, war das Wasser im Pool voller Algen, und die Rosen waren verlaust. Wir zogen mit viel zu viel Möbeln in eine kleine Etagenwohnung. Die neuen Bewohner schütteten den Pool zu und pflanzten stattdessen Rhabarber und Kartoffeln.
Christian Schünemann
wurde 1968 in Bremen geboren. Er studierte Slawistik in Berlin und Sankt Petersburg, arbeitete in Moskau und Bosnien-Herzegowina und schrieb als Storyliner und Drehbuchautor. Bei Diogenes erschienen bislang seine Krimiserie um Starfrisör Tomas Prinz sowie die zusammen mit Jelena Volič verfassten Kriminalromane um die serbische Amateurdetektivin Milena Lukin. Christian Schünemann lebt in Berlin. Im Februar feiert sein Roman Bis die Sonne scheint Bremer BuchPremiere.
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