Marlis Thiel: Lesezeichen

Sonnenaufgang auf dem Land
© Rike Oehlerking

Das Schicksal ist nicht gerecht

Von Marlis Thiel

In dem Jahr, als sie auf die Welt kam, starb ihr Großvater sechs Tage vorher, Ende Mai. Es war herrliches Wetter bei der Beerdigung, wurde erzählt, der strahlend blaue Himmel gerühmt. Ihr erscheint das fast schon grausam. Dass ein Mensch aus dem Leben verschwinden muss, während ein anderer den frei gewordenen Platz sofort einnimmt. Der Großvater war nicht einmal siebzig geworden. Eine in den Krieg hineingewachsene Generation, von ihren Führern in einen aussichtslosen Kampf geschickt. Soldaten, die mit einem Lied auf den Lippen starben. Man sieht sie laufen, sich wegducken, wie Insekten an der Erde krabbeln, kriechen, solange, bis sie liegen bleiben. Und doch sind es bloß Vorstellungen, aus Filmen und Erzählungen zusammengesetzt.

Die Eltern umgekommen, die Schwestern nach Sibirien verschleppt. Sie waren erst wieder aufgetaucht, da hatte er schon geheiratet. Zwischen 1945 und 1950 weder Bilder noch Briefe. In der Zeit, zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, werden doch Weichen gestellt. Da startet man eine Karriere, verliebt sich, heiratet und wird laut Tschechow unglücklich. Bei einem Bruder, in Hamburg, war er erst einmal untergetaucht. Ohne Geld in der Tasche. Ohne Papiere. Wie hat er das ausgehalten? Und wann kam der Wendepunkt, das Ende der Tragödie, der Beginn von einem neuen Leben?

Neuenhafen hieß der kleine Ort, oben, in Mecklenburg, wo es für ihn weitergegangen war. Am Anfang noch unter den Briten. Erst danach kamen die russischen Racheengel. Er hatte nichts gegen die Russen. Außerdem wurde bald nur noch von der deutsch-russischen Freundschaft gesprochen, in der gerade erst gegründeten DDR. Auf einmal sollte alles anders sein. Der Staat. Seine Institutionen. Und seine Bürger. Alle diese Verlorenen, die gerettet werden wollten. Nun eingeklemmt zwischen Liebe und Politik. Er hatte das nicht lange ausgehalten, den Staat irgendwann verlassen. Drei Jahre nach der Wiedervereinigung lag er schon im Krankenhaus. Er wusste, dass er sterben würde. Wo er war, in den letzten Stunden seines Lebens, tobte noch einmal der Krieg. Er kämpfte, rang mit seinen Dämonen, bettelte um Schlaf. Vielleicht schon dort, an seinem Bett, in der Kammer, in die man den Sterbenden geschoben hatte, begannen die Wehen. Zeit zum Gehen für die, die am Bett ihres Vaters ausgeharrt hatte, vielleicht hoffend, dass er noch etwas sagen würde. Er starb allein, eingeschlossen in sein Schweigen. Der Kampf war ausgestanden, während der ihre gerade erst anfing.


Marlis Thiel

wurde 1950 in Grevesmühlen in der damaligen DDR geboren und zog 1961 nach Niedersachsen. Sie studierte Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie in Göttingen, Berlin und Bremen. 1998 promovierte sie mit einer Monographie über den Schriftsteller Klaus Mann. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Biographien, Dokumentationen, Essays, Romane und Kurzgeschichten. 2001 erschien ihr erster Roman Dieses Blaue des Himmels.

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© privat

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