Der von einem alten Turnschuh wie von einem überflüssig gewordenen Jugendfreund umschlungene, vorzeitig gealterte Fuß des jungen Independentmusikers zog Fäden vom geschmolzenen Teer, als er sich in der Hitze der Septembernacht vom Asphalt des Parkplatzes an der B73 löste und an der Pommesbude vorbei zum Kommerzscheißhaus schlurfte. Das schmatzende Geräusch veränderte sich, als sein Schuh auf den gewienerten Boden der Sanifair Toilette traf und wandelte sich in ein hohes, basketballiges Quietschen. Der Schuhträger und Indiemusiker, INDIE, der Umstand, welcher ihn an diesen gottlosen Ort gebracht hatte, machte einen schnellen Sternschritt, schloss die Augen, hörte nur noch das Quietschen und dachte kurz an Will Smith, den rappenden Prinzen von BelAir, welcher bekanntlicherweise wegen nur einem Basketballspiel und ein wenig Ärger seine geliebte Heimat verlassen musste, um nach Los Angeles deportiert zu werden. Das Quietschen verhallte. Er öffnete die Augen. Zurück blieb nur die ewige Stille der LED-Beleuchtung über dem Waschbecken. Der Indiemusiker schaute sich im Spiegel selbst in die Augen. Er besah sich die Spiegelung in seiner Iris und wie sie den Spiegel spiegelte. Sein Gesicht verlor sich im Dunkel der unendlichen Reflektion zwischen dem Spiegel und seiner selbst. Er begann zu zittern und transzendierte leicht. War es das gewesen? Kam da noch was, oder entblößte sich in genau diesem Nadelkopf der Zeit sein Schicksal?
Er war nicht Will.
Er war Carlton.
Da stand er nun, vergilbt im eiskalten Blaulicht der Unterputzdeckenstrahler. Was für ein Held. Unabhängig und nichtsbedeutend, sich selber treu bis zum bitteren Ende. Verblasst im fahlen Theaterlichtkegel einer trüben Zukunft und der Gegenwart, die er sich selbst schon nicht mehr traute, ein Leben zu nennen. Kein rappender Prinz vor den Toren Hollywoods, nur ein muffiges Kind kurz vor Ausfahrt Stade, auf dem Weg nach Osnabrück, um zum dritten Mal in diesem Jahr vor 20 nicht zahlenden Indiefans im JUZ zu spielen, jedes ihm bekannte Gesicht eine einzige Beleidigung, jedes nette Kompliment eine weitere Kränkung.
Er strich sich mit den fleischigen Powercordfingers durchs immer noch gute Haar, riss sich vom Spiegel los, verzichtete trotz bitterster Armut darauf, den 0,50€ Wertbon einzulösen, stieg in den von seiner Mutter geliehenen Toyota, fuhr ohne Pommes zu kaufen zur Venue , ging direkt auf die Bühne und begann acapella aus voller Kehle ins Mikrophon und den Anwesenden in Gesicht zu schreien: „Der von einem alten Turnschuh wie von einem überflüssig gewordenen Jugendfreund umschlungene, vorzeitlich gealterte Fuß des jungen Musikers zog Fäden, als er sich in der Hitze der Nacht vom Asphalt des Parkplatzes an der B73 löste und zum Pommesstand schlurfte…“
Sönke Busch
wurde 1980 geboren. Nach Studium und Arbeit als Regisseur unter Förderung der Stadt Wien, in Amsterdam, Berlin, Monastir und Honolulu verlegte Busch seinen Hauptwohnsitz wieder nach Bremen und arbeitet mittlerweile zwischen Bremen, Amsterdam und Vancouver. Er gewann im Jahre 2012 für seine Reden und seltsamen Ideen den Unternehmerpreis Kultur- und Kreativpilot. Im Jahr darauf folgte der Geschichtenzyklus Bomben auf Utopia, eine wöchentliche, bundesweite Lesung auf dem Radiosender FLUX FM und das Projekt Der Plan - Die lauteste Rede der Welt. Diese Aktion, nebenher ein Weltrekord, erfuhr bundesweite Aufmerksamkeit. Busch gewann für seine künstlerische Arbeit mit dem Team der Produktion Einigkeit und Rap und Freiheit im Jahre 2019 den Grimme Online Award. Er betätigt sich seit 25 Jahren im öffentlichen Raum der Stadt Bremen. Zur Zeit arbeitet Sönke Busch als Stipendiat im Zentrum für Kunst Bremen und unterstützt von der evengelischen Kirche in der Lieb-Frauen-Kirche zu Bremen. Im Herbst 24 erscheint sein neues Buch Das Gegenteil von Arbeit.