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Schwalbenkot
© Rike Oehlerking

Schwalbenkot
Von Ulrike Kleinert

Er war Amra nicht sofort aufgefallen, so sehr war sie  gefangen vom Beginn ihrer Reise mit Jonathan, einer virtuellen Reise. Sie hatte darauf bestanden, dass er nicht nur  Filme schickte, sondern wenn sie verabredet waren, alle Momente mit ihr teilte. Überhaupt unternahmen sie ständig virtuelle Reisen. Es war so einfach, eine kurze Nachricht über den Messenger, den sie gerade benutzen und die ruhige, freundliche Stimme von KI-Jane organisierte zwischen ihnen eine Abstimmung.

Heute hatten sie sich auf das Dachsteingebirge aufgemacht und waren zurückversetzt worden in die Zeit, in der der Dachstein noch ein Gletscher gewesen war. Aber etwas stimmte nicht, Jonathans Bewegungen hatten etwas Abgehacktes. Ihr Miteinander war nur Täuschung.

Amra hatte sich die VR-Brille vom Gesicht gerissen und sie von sich geschleudert. Hilflos stand sie barfuß auf dem Balkon und spürte, wie kalt ihr war. Für die Illusion, auf dem Dachstein zu stehen, hatte es diese Kälte gebraucht. Nun starrte sie auf ihre nackten Füße und entdeckte davor diesen kleinen weißen Fleck auf einer Fliese, Schwalbenkot. Die Schwalben hatten über ihr an der Hauswand begonnen, ein Nest zu bauen. Warum war ihr das nicht aufgefallen? Vielleicht, weil es ungewöhnlich kalt war in diesem Frühjahr und sie den Balkon nicht genutzt hatte. Beharrlich klebten die emsigen Vögel Lehmkügelchen an Lehmkügelchen. Die Städte waren grüner geworden, der nahegelegene Fluss sauberer, mehr Insekten und auch die Schwalben zurückgekehrt? Aber Schwalbenkot auf dem Balkon? Könnte sie sich an diesen Gedanken gewöhnen oder sollte sie das Nest zerstören, ehe sie zu brüten begannen?


Ulrike Kleinert

wurde 1955 in Delmenhorst geboren. Sie hat in Bremen und Kiel Sozialpädagogik studiert und war in Bremen über Jahrzehnte als Leiterin von Kitas tätig. Erste Veröffentlichungen von ihr gab es den Siebziger Jahren u.a. beim Fischer Verlag. Ihre Gedichte und Kurzgeschichten sind in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften vertreten. Ihr dritter Band mit Kurzgeschichten ist 2021 beim Kellner Verlag, Bremen, erschienen. Sie arbeitet an einem Roman. Ihre Leidenschaft gilt Poesie-Projekten mit Kindergartenkindern.

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Proträt von Ulrike Kleinert
© Meike Rohde

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