Nele Miesner: regenwurm

Friedhof bei Nacht
© Rike Oehlerking

regenwurm
Von Nele Miesner

ich hab mich schon immer gefragt, wie es ist, neben einem friedhof zu wohnen kannst du in der stille ruhen oder zerdrückt sie dich? traust du dir bei vollmond einen spaziergang zu?

träumst du von aufschwemmenden särgen früherer zeiten? ich sehe die leeren fenster und halbbunten balkone und bekomme keine antwort.

wir weichen wieder ergrünten gräbern aus, als ob es da noch irgendetwas gibt, was man nicht mit füßen treten dürfte. überall kleine eichen, höchstens aus dem letzten jahr, werden schon das nächste jahr nicht erleben.

frage die blutbuche, wie viele der 60 000 bestattungen hast du schon mit angesehen? leid und tränen fließen, parolen und symbole wechseln gesehen? die leisen und die lauten tage, antwortet sie.

napoleon, franco, mussolini, große namen zwischen kleinen tafeln auf sprödem stein, kaum lesbar, bröckeln schon. und neben all dem marmor, granit, kalkstein lädt der efeu ein, dass ich mich hinlege

ich will, dass er mich eindeckt, will mich betten auf laub und pilzen und moos und gras und verschwinden, ohne spuren zu hinterlassen kann nur daran denken, dass ich weich, immer weicher werden will. zähne nägel muskeln sehnen knochen haut

werden langsam zu weicher erde. werde von mir selbst zersetzt und sinke immer tiefer ein und humus ersetzt blut und wasser und atemzüge. spüre über mir die gräser wanken. moleküle zu molekülen und dann bist du nicht mehr du, sondern wir. der regen auf deinen blättern und sonnenstrahlen auf frischgrünen astgabeln, das spüre ich dann auch.

aber wir gehen weiter.

auf wieviel schichten leid und trauer kann man laufen, bevor man im morast versackt? wie viele ebenen können sich überlappen, wie viele geschichten kann ein ort in sich tragen, bevor er kollabiert, bevor er sich zurückholt, was du dir geborgt hast?

egal wie laut es ist, alles um dich herum. im ende sind wir alle still. in diesem stummen nachhall, spielt es dann eine rolle, neben wem du liegst? héloise, was meinst du? wir werden vom selben regenwurm durchschlängelt, antwortet sie.


Das Portrait zeigt Nele Miesner vor einer Betonwand.
© Friedrich Charly

Nele Miesner

geboren 2000 in Osterholz-Scharmbeck, studierte in Göttingen Weltliteratur und absolviert gerade ihren Master in Transnationaler Literaturwissenschaft an der Universität Bremen. Ihr Schreiben bewegt sich zwischen Poetry Slam und lyrischer Prosa. Erste Texte hat sie in Anthologien veröffentlicht, unter anderem im Rahmen des Bremer Literaturwettbewerbs 2023.

Alle Texte aus dem Seminar Reisen und Schreiben

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