Wer bin ich eigentlich, wenn ich niemand sein kann? Wenn sich mir nichts Beschreibbares mehr bietet, sich die Worte erschöpfen und mir nichts bleibt, mit dem ich dem Zwang nach Kategorisierung und Definition Genüge tun kann? Ich falle von einer Schublade in die nächste und wate weiter, wie ein Kind im Sumpf, in die viel zu großen und klobigen Schubladen und falle am Ende runter. Wohin weiß ich nicht, nur, dass hier nichts mehr ist. Die Möglichkeiten mich verlautbar zu machen, scheinen leer zu sein. Da ist nichts mehr. Nur noch ich. Ein Ich, das keine Worte bekommt. Entweder x oder y, er oder sie, ich oder du, wir oder die, eins oder nichts.
Als Kind wachte ich eines Morgens auf und hatte kurz rasierte, dunkelblau gefärbte Haare. Ich trug eine locker sitzende, braune Kordhose, dazu ein braunes Holzfällerhemd und ein weites T-Shirt. Ich spürte nicht wie sonst mein weiblich definiertes Geschlechtsteil, sondern etwas anderes zwischen meinen Beinen. Es war kein Penis, aber auch keine Vulva, es war keins von beiden, vielleicht auch beides zusammen, es war etwas, für das ich keine Worte fand.
Genauso wenig konnte ich mein neues Erscheinen formulieren, ich kannte die Wörter dafür nicht. Ich fühlte nur ein weit ausgebreitetes Wohlbefinden, eine ruhige Zufriedenheit in mir, die mir Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein gab. Ich ging stolz den schmalen Weg zum Eingang des Kindergartens an der Hand meiner Mutter entlang und freute mich darauf, mich zu präsentieren. So frei und so ichselbst fühlte ich mich seither nie wieder.
Ich war lange davon überzeugt, dass ich das wirklich erlebt hatte. Jahrzehnte später konnte ich mich noch genau an dieses Erwachen und an diesen Tag und den Weg zum Kindergarten erinnern. Ich spürte immer noch dieses innere, unglaublich ehrliche und stolze Lächeln bei dem Bewusstsein meiner ganz eigenen Körperlichkeit, fernab von männlichen oder weiblichen Zuschreibungen. Fernab von einer Konstruiertheit der Geschlechter und der konventionellen Modellierung von Körpern. Ich war ganz da, ganz ichselbst und glücklich, war wie vollkommen.
Irgendwann wurde mir klar, dass ich diese Szene als Kindergartenkind geträumt hatte. Es brach eine Art Ernüchterung in mir aus, aber auch eine zauberhafte Verwunderung über diese präzise Art der Selbstdefinition, die ich mir als kleines Kind konstruiert, erträumt hatte. Mittlerweile glaube ich, dass dieser Traum, der mich mein ganzes Leben auf eine zauberhafte, aber auch ganz klare Art und Weise begleitet hat, mein inneres Coming Out als nicht-binäre Person war. Jetzt wie auch damals habe ich wenig bis keine Möglichkeiten, dieses Empfinden von mir selbst und dieses Sich-außerhalb-binärer-Geschlechterverhältnisse-Verorten treffend zu beschreiben. Wo meinem Kindergeist früher noch die „Erwachsenenworte“ fehlten, habe ich heute erkannt, dass es selbst in der Welt der Erwachsenen keine passenden Worte gibt. Es gibt einfach nichts, deshalb müssen wir uns – wie früher – eigene Wörter ausdenken, die uns beschreiben.
Wir müssen uns die Schubladen bauen, die diese Gesellschaft nicht bereithält. Oder wir müssen uns einen Hammer bauen, mit dem wir diese Schubladen kaputt machen können.
Viel von der kindlichen Freiheit, mich selbst zu spüren, und der Unversehrtheit, mit der ich mich selbst betrachtete, habe ich mit der Zeit, mit dem Wachsen und Erwachsenwerden verloren. Wir lernen uns Schablonen aufzulegen und unser Bild danach abzuzeichnen. Wir lernen aus uns ein Abbild zu machen, das uns im Laufe unseres Lebens als erstrebenswert verkauft und als einzige Möglichkeit geboten wird.
Da bleibt kein Platz mehr für das Kind in uns, kein Platz mehr für Ehrlichkeit und Zärtlichkeit, kein Platz mehr für uns selbst. Zumindest wird uns diese Art, uns selbst aus unseren Träumen heraus zu verwirklichen und zu verstehen, ausgetrieben. Durch begrenzten Wortschatz und die schlafende Bereitschaft, sich neue Worte auszudenken, werden wir binär programmiert und alles jenseits dessen ist nichts weiter als ein kaum greifbarer, wortloser Kindheitstraum.
Wer bin ich also, wenn ich niemand sein kann? Wer sind wir Wortlosen? Wir Schubladensprengenden?
Wir Träumenden? Wer sind wir Kinder?
Wir sind a, as, bla, dey, die, el, em, en, eos, es, ersie, ey/em, et, hän, hen, iks, k, le, mensch, nin, per, sel, ser, sey, sier, sif, sir, they, vii, x, xe, xier, xie/xieren, zae, ze/zee, z/zet,
wir sind so, wie wir heißen wollen und wie wir uns nennen.
Wir sind das Ich, das sich alle Worte kreieren kann.
Wir sind keine Schublade. Wir sind der Hammer, der sie zerschlägt.
Nele Müller
schreibt, veröffentlicht und performt seit einigen Jahren Texte als freischaffende Autor*in. In den Arbeiten verbindet Nele politischen Aktivismus mit Theater, Text und Performance und erzählt Inhalte aus eigener, persönlicher Perspektive. Nele wohnt zurzeit in Münster und studiert nebenher Germanistik und Soziologie.
Im Oktober kommt Nele Müller für ein Schulprojekt des Literaturhauses mit Eva Matz nach Bremen.