Satzwende: Berit Glanz (1/2)

Kompass in der Hand
© Rike Oehlerking

Und die Moral von der Geschicht'? I

Das Gespräch über die eigenen Moralvorstellungen setzt Vertrauen voraus, denn wir geben mit unseren Überzeugungen einiges über uns selbst preis, über unsere Herkunft und unsere Geschichte. Deswegen ist eine unvermittelt im Gespräch gestellte Frage nach den eigenen moralischen Überzeugungen sicherlich für nicht wenige Menschen eine Herausforderung. Dabei sind Fragen der Moral zentral für alles menschliche Miteinander – immerhin beziehen sie sich auf das Aushandeln der Prinzipien, mit denen wir Tag für Tag entscheiden, ob wir das Handeln Anderer als richtig oder falsch bewerten.

Vermutlich kommt einem der Begriff „Moral” deswegen auch ein wenig aus der Zeit gefallen vor, weil wir uns bewusst sind, dass wir als moderne Menschen in einer komplexen und vielfach ausdifferenzierten Gesellschaft leben, bei der exakte Bewertungen oft gar nicht so leicht sind. Es kann dubios oder sogar fanatisch wirken, wenn andere einen stark ausgeprägten moralischen Kompass haben, der ihnen immer und in jeder Situation vorgibt, ob etwas richtig oder falsch ist.

In einer Kultur des Zweifelns, die Ambivalenz und das empathische Abwägen verschiedener Positionen schätzt, kreiselt die innere Kompassnadel zumeist eine Weile, bevor sie ihre feste Ausrichtung findet. Denn die Werte und Prinzipien, die unseren Moralvorstellungen zugrunde liegen, können von Person zu Person sehr unterschiedlich sein. Sie sind abhängig von Zeit und Raum, von unserer individuellen und unserer kollektiven Geschichte und wir handeln sie tagtäglich abstrakt und in unseren ganz konkreten Handlungen neu aus.

Möchten wir unser Leben im Einklang mit unseren grundsätzlichen Überzeugungen leben, dann brauchen wir einen moralischen Kompass, aber auch das Bewusstsein, dass der Kompass meines Gegenübers ganz anders justiert sein kann und sich auch unsere eigenen Prinzipien im Laufe des Lebens verändern können und müssen, wenn wir uns flexibel an aktuelle Geschehnisse anpassen wollen.

Die für mich persönlich und in meinem Schreiben zentrale Frage ist, wie und ob sich die Moral und ihr Aushandlungsprozess durch die digitale Vernetzung der Welt verändert hat. Das Internet hat ganz grundsätzliche Umwälzungen in unserer postdigitalen Gesellschaft ausgelöst, die Auswirkungen auf alle Bereiche unseres Lebens haben. In meinen beiden Romanen habe ich mich deswegen auch mit der Frage beschäftigt, wie ein menschliches Miteinander in einer vernetzten Welt aussehen kann und wie wir auch im virtuellen Raum die Grundlagen unseres menschlichen Miteinanders permanent aushandeln.

Durch die Digitalisierung, das Internet und ganz besonders durch die sozialen Medien haben wir permanent Zugriff auf eine große Bandbreite moralischer Perspektiven. Konflikte über Wertvorstellungen werden in den Timelines teilweise hoch aggressiv geführt, gerade weil im Internet permanent Menschen verschiedenster Überzeugungen und Hintergründe aufeinandertreffen, oft verknüpft mit einem erheblichen Sendungsbewusstsein.

Die technische Entwicklung hat den Konflikt um die richtigen Moralvorstellungen nachhaltig verändert. Es sind neue Formen des miteinander Sprechens und Streitens entstanden und es sind neue Themen hinzugekommen, wie beispielsweise die Frage, wie wir unsere virtuellen Gegenüber behandeln, ob sich virtuelle Freundschaften von denen außerhalb des Internets unterscheiden und wie wir es schaffen konstruktiv miteinander zu diskutieren, wenn die algorithmische Architektur vieler Internetplattformen genau das Gegenteil befördert.

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Portrait-Foto der Autorin Berit Glanz
© privat

Berit Glanz

ist Autorin, Essayistin und Literaturwissenschaftlerin. Sie hat in München, Stockholm und Reykjavík studiert und war danach wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Skandinavische Literaturen der Universität Greifswald. Ihr Romandebüt Pixeltänzer erschien 2019 im Schöffling Verlag und wurde unter Anderem mit dem Hebbel-Preis 2020 ausgezeichnet. 2020 erschien ihr erster Gedichtband Partikel bei Reinecke & Voss. Im selben Jahr erhielt sie die Bremer Netzresidenz mit dem Lyrikprojekt Nature Writing / Machine Writing. Ihr zweiter Roman Automaton ist im Frühjahr 2022 im Berlin Verlag erschienen. Sie ist Redaktionsmitglied des digitalen Feuilletons 54books und verfasst regelmäßig den Memekultur-Newsletter Phoneurie.

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