Ich weiß nicht, wann ich anfing, an meinem Denken zu zweifeln. In der Schule, als ein Lehrer grob einen Gedanken korrigierte? An der Universität, als man mich im Freundeskreis sanft darauf hinwies, dass ich ein lateinisches Fremdwort falsch betonte? Als Autorin, im Gespräch mit Expert*innen, die mir suggerierten, ich hätte nicht genug Marx gelesen?
Ich bin anfällig für Flüchtigkeitsfehler. Ich verdrehe Wörter, ich vergesse oder verwechsle Namen, ich erinnere (Jahres-)Zahlen falsch. Auch fehlt mir bisweilen der Überblick. Die Vogelperspektive, die stets souverän durch Systeme und Jahrhundert schreitet, entgleitet mir bisweilen, und dann schlingere ich, wie der behäbige Albatros aus Walt Disneys Bernhard und Bianca mehr schlecht als recht durch die gefährlichen Höhen intellektueller Gefilde.
Meine Art zu denken entspricht nicht immer dem, was Expert*innen oder Institutionen als legitim empfinden. Ich war nie gut darin, Zahlen oder Fakten auswendig zu lernen. Andere Zusammenhänge brennen sich mir dafür detailgenau ein. Inzwischen weiß ich: Auf mein Gedächtnis ist Verlass. Es sortiert sorgsam zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Ich erinnere Dinge, wenn sie für meine subjektive Realität von Bedeutung sind.
Als Kind aus einem kleinbürgerlichen Milieu musste ich mir das Denken erst erlauben. Ich bin mit einer sozialen Grammatik sozialisiert, die geistige Arbeit als einen nahezu ungehörigen Luxus empfindet. „Jemand macht sich zu viele Gedanken“ ist ein geflügeltes Wort meiner Jugend. Lesen und Schreiben galten in dieser Welt tendenziell nicht als Arbeit.
Ich habe lange gebraucht, um anzuerkennen, was und wer ich bin: eine Intellektuelle.
Gymnasium. Studium. Promotion. Schriftstellerin. Diese vier Wörter markieren die Entfremdung zu meinem Herkunftsmilieu.
Ich liebe das Denken, auch weil es mich gerettet hat, als Kind. Es hat mich gerettet, so wie viele Kinder sich retten, indem sie sich durch ihren Intellekt ein Zuhause erschaffen, weil das konkrete physische Zuhause keine hinreichende Geborgenheit bietet. Die Ehe meiner Eltern war nicht nur keine glückliche, sie war eine ausgesprochen unglückliche, gleichermaßen geprägt von Geschlechter- als auch Klassenkampf.
Ich schreibe, seit ich denken kann, gegen ein väterliches Schreibverbot an. Und seit ich denken kann, bemühe ich mich darum, als Schriftstellerin „nichts besonderes“ sein zu wollen. In mein Denken eingraviert ist das Gebot, mich nicht qua Intellekt über andere zu stellen. Mein Herz schlägt noch immer laut, wenn ich eine Frage von Roland Barthes vor mir wiederhole, nämlich die, „unter welchen (…) Bedingungen ein Diskurs nicht arrogant sein kann.“
Daniela Dröscher
wurde 1977 geboren und ist in Rheinland-Pfalz aufgewachsen. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studiert hat sie in Trier, London, Potsdam und Graz, heute lebt sie in Berlin. Ihr Romandebüt Die Lichter des George Psalmanazar erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband Gloria und der Roman Pola sowie das Memoir Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft bei Hoffmann & Campe. Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. Seit Herbst 2018 ist sie Ministerin im Ministerium für Mitgefühl. Im August 2022 ist Daniela Dröschers Roman Lügen über meine Mutter im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Der Roman stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2022.
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