In der Gerechtigkeitsgasse in Zürich gibt es eine Einrichtung für betreutes Wohnen. Es gibt eine Praxis für ästhetische Medizin. Und es gibt eine Anwaltskanzlei mit dem Namen Kämpfen.
Die Einrichtung für betreutes Wohnen heißt Suneboge, also Sonnenbogen, und auf der Website steht: Wo gibts was Warmes zu Essen? Wo schlafe ich heute Nacht? Wo gibt es gratis Internet?
Auf der Website der Praxis für ästhetische Medizin steht: Schöner, attraktiver und auch jünger wirken und dabei Sie selbst bleiben. Ganz unten steht: Neben den Schwerpunkten Prävention, Verjüngung, Bodyformung sind Kompetenz, Sorgfalt, Zuverlässigkeit und Vertrauen die wichtigsten Grundlagen unserer Arbeit.
Ich hatte gerade begonnen, mir Gedanken zu machen, über einen Text zum Thema Gerechtigkeit, über die Frage, was Gerechtigkeit mit Verständnis zu tun haben könnte, mit dem Identifizieren und Benennen der verschiedenen Stoffe, Kräfte und Ideen, die sich überlagern im Hier und Jetzt, als mich ein Freund anrief und mir sagte, dass wir weißen Männer endlich einmal die Fresse halten müssten, wir hätten lange genug geredet, jahrtausendelang hätten uns alle zuhören müssen, jetzt seien andere dran, und ich sagte, okay, und wir legten auf.
Kurz darauf rief ein anderer Freund an und sagte, ich müsste mein Vermögen schützen, der Crash komme, ich müsste sofort Gold kaufen, Kryptowährungen und Immobilien, und ich sagte nicht, dass meine EC-Karte neulich nicht funktionierte, als ich mit dem Kinderwagen an der Spitze einer langen Schlange im Supermarkt stand, weil Biolebensmittel für zwei Tage für vier Leute in der Schweiz eben etwas mehr als 100 Franken kosten, weil ich kein regelmäßiges Einkommen habe, und weil die Überweisung von meiner Frau noch nicht da war, ich sagte, ich denke darüber nach.
Und dann dachte ich so schnell, wie ich konnte, dass ich ja eigentlich dankbar war, diese ganze Erwerbsscheiße im Moment nicht so richtig mitmachen zu müssen, früher, als ich noch nicht nichts tat außer Kinder betreuen, Einkaufen, ab und zu putzen, aufräumen und schreiben, war das immer ein ziemlicher Stress, und im Übrigen ist es ja auch gesellschaftlich akzeptiert und politisch angebracht und moralisch richtig, dass ich jetzt ein wenig zurückstecke, dass meine Frau mehr Zeit zum Arbeiten hat, mehr Zeit zum Ausgehen, mehr Geld.
Und dann rief meine Mutter an und sagte, ich solle endlich meine Persönlichkeit zur vollen Entfaltung bringen, das mit dem Geld komme dann schon von alleine, und dann stellte ich mein Telefon aus und versuchte, mir doch noch ein paar Gedanken zu machen über einen Text zum Thema Gerechtigkeit, über die Frage, was Gerechtigkeit zu tun haben könnte mit Verständnis, mit dem Identifizieren und Benennen der verschiedenen Stoffe, Kräfte und Ideen, die sich überlagern im Hier und Jetzt.
Und weil mir nichts einfiel, packte ich meine Sportklamotten und Frankopans Licht aus dem Osten und ging ins Fitnessstudio, stieg auf den Crosstrainer, wählte einen niedrigen Widerstand und las, dass zur Blütezeit des Sklavenhandels in Europa und im Nahen Osten männliche weiße Sklaven im Unterschied zu männlichen schwarzen Sklaven (und natürlich allen weiblichen Sklaven) in einer Art Zertifizierungsritual nach Erreichen ihres Bestimmungsortes standardmäßig kastriert wurden. Ich verringerte den Widerstand noch etwas, erhöhte die Trittfrequenz, und versuchte, mir all die über Jahrhunderte im Auftrag des Wirtschaftswachstums abgetrennten männlichen weißen Geschlechtsteile auf einem Haufen vorzustellen.
Als ich wieder zuhause war, las ich, dass weiße Sklavinnen (wie alle Sklavinnen aller anderen Ethnien auch) selbstverständlich vergewaltigt wurden, während und nach ihrer Gefangennahme und Entführung vor allem durch auf den Flüssen Osteuropas kreuzende Nordmänner, und vor und nach ihrem Verkauf auf den Märkten altehrwürdiger Handelsstädte, und ich ertappte mich dabei, mich zu fragen, ob ich lieber vergewaltigt werden würde oder kastriert, und ohne eine auch nur ungefähre Vorstellung von einer der beiden Erfahrungen zu haben oder von jemandem in meinem Umfeld zu wissen, die oder der das hat, beschloss ich, eine Vergewaltigung weniger schlimm zu finden als eine Entmannung.
Und dann wachte meine jüngere Tochter auf und die Ältere kam von der Schule, und die Polenta kochte über, und die jüngere Tochter weinte sehr laut, und die Windeln waren alle, und ich ließ die Jüngere nackt herumlaufen, während ich die angebrannte Polenta von der Herdplatte kratzte, und die Ältere begann vor lauter Hunger und Ungeduld, im Wohnzimmer Fußball zu spielen, was ich ausnahmsweise zuließ, bis erst etwas Kleines leise klirrte, und dann etwas Großes sehr laut, und dann schrie ich die Große an, ob sie eigentlich den Arsch offen hätte, und dann kackte die Kleine auf den Wohnzimmerteppich.
Und dann sagte ich, dass es mir leidtut.
Ich weinte ein bisschen und suchte Heile Heile Segen auf Spotify. Als das Lied anfing, lächelte die Ältere mich mitleidig an, und die Jüngere tanzte so wild, dass sie umfiel.
Und später, auf der Kellertreppe, als der rechte Henkel des Wäschesacks riss, verteilten sich T-Shirts, Hosen, Bodys und Socken auf den Stufen, in allen Farben und Verschmutzungsgraden.
Und noch später stand ich gebückt in der niedrigen Waschküche, die Plastikleinen schnitten mir ein in Hinterkopf und Stirn, und ich merkte, dass der sanfte Druck auf meinen Kopf angenehm war, ich fühlte mich nicht eingeengt oder gefesselt von den Wäscheleinen, sondern seltsam gehalten, gestützt, geleitet.
Ich beschloss, genau so stehen zu bleiben, bis ich meine Persönlichkeit zur vollen Entfaltung gebracht hätte; bis ich alle Stoffe, Kräfte, und Ideen identifiziert und benannt hätte, die sich in mir überlagern zum Hier und Jetzt.
Heinz Helle
wurde 1978 geboren. Er studierte Philosophie, arbeitete als Texter in Werbeagenturen und ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts. Heinz Helle lebt mit Frau und Kindern in Zürich. Sein Romandebüt Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin (Suhrkamp 2014) stand auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Für Die Überwindung der Schwerkraft (Suhrkamp 2018) erhielt Helle den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019. Im Schuljahr 2019/20 betreute Heinz Helle in Bremen den Schulhausroman an der Oberschule Lesum.