Satzwende: Hengameh Yaghoobifarah (1/2)

Verschwommene Menschen bewegen sich vor bunten Lichtern.
© Clem Onojeghuo on Unsplash

Zeit der Unschärfe

Ich dachte immer, in meinen Freund_innenschaften über alles reden zu können. Persönliche wie politische Konflikte, egal wie schmerzhaft. Nicht mal die Corona-Pandemie oder der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die als die spaltenden Ereignisse unserer Gesellschaft verhandelt wurden, konnte an unseren Bindungen rütteln. Dass meine Freund_innen oder ich aufgrund von Konflikten, die vorrangig auf Social Media stattfinden, so von einander wegdriften könnten, habe ich nicht erwartet. Seit dem 7. Oktober hat sich meine Welt verändert.

Es begann eine Zeit der Unschärfe. Auf einmal war ich mir unsicher darüber, was Leute mit ihren Worten meinten. Dekolonialisierung, Widerstand und Befreiung: Dass diese Begriffe in linken Kontexten tendenziell positiv besetzt, jedoch sehr schwammig in ihrer konkreten Bedeutung sind, kreierte jetzt noch größere Gräben. Die Ungenauigkeit hängt aber auch über die Uneinigkeit darüber zusammen, was kulturelle, politische und religiöse Hegemonien sind – nur der Westen, nur Weiße, nur das Christentum? Was bedeutet Freiheit und wem gewähren wir sie? 


Die Unschärfe legte sich nicht nur auf politische Begriffe, sondern auch auf jene, die unsere Beziehungen beschreiben: Was bedeutet eigentlich Freund_innenschaft, was Verbundenheit, was Wahlfamilie und was Community? In meinem Verständnis sind es Bindungen, die belastbar sein sollten, in denen sich auch krass gezofft werden kann. Weil so auch Intimität entsteht. Freund_innen stehen doch in der Verantwortung, sich gegenseitig nicht nur die Zeit und Kraft für Lob, sondern auch für Kritik zu nehmen. Weil sie wissen, dass die in Kritik stehende Person es eigentlich besser wissen müsste.

Doch die allgemeine Irritationstoleranz ist auf den Nullpunkt gesunken. Vielleicht war ich selbst früher dogmatischer. In Gesprächen mit insbesondere älteren Genoss_innen habe ich gelernt, dass eine gewisse Lockerheit und der Blick auf das große Ganze wichtig sind, damit sich etwas bewegt. Keine Kompromisse in der Haltung, sondern weniger Engstirnigkeit und Arroganz. 


Ich wünsche mir diese Auseinandersetzungen auch, weil ich mittlerweile weiß, dass aufrichtige Selbstkritik nicht möglich ist, wenn man unter Druck gesetzt wird, seine Meinung ändern zu müssen. Wie produktiv kann ein Reflektionsprozess sein, wenn man fürchtet, seine Existenz und sein soziales Umfeld zu verlieren? Wenn ich in den vergangenen Monaten etwas über die Welt, die ich mir wünsche, gelernt habe, dann ist es eine, die frei von Autorität ist. Ich wünsche mir eine Welt, in der jeder Mensch Macht über sich selbst und sonst über niemanden anderen hat. Die Masse auf der gleichen Seite der Barrikade ist nicht homogen und darin liegt ihr Reichtum.

© Lior Neumeister

Hengameh Yaghoobifarah

wurde 1991 in Kiel geboren, ist Jouralist*in und Autor*in. Ab 2011 Studium der Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik an der Universität Freiburg. Seit 2014 ist Berlin die Wahlheimat. Dort arbeitet Yaghoobifarah als Redakteur*in für das Missy Magazine. Außerdem schreibt Yaghoobifarah frei für deutschsprachige Medien wie SPEXan.schläge und die taz. Yaghoobifarah ist nicht-binär, identifiziert sich also weder als männlich noch als weiblich. Im September 2024 ist Yaghoobifarah in Bremen und liest in der Reihe queer.lit! aus dem zweiten Roman Schwindel, der dann gerade frisch erschienen ist.

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