Satzwende: Joachim Zelter (2/2)

Eine grüne Klingel vor einem verschwommenen Hintergrund.
© Rike Oehlerking

Cyclomanie

Cyclomanie. Fahrradwahnsinn. Ich fahre Hunderte Kilometer an einem Stück – ohne einen wirklichen Grund. Bußzahlen? Kasteiungszahlen? Entbehrungszahlen? Nein, antworte ich: Es sind Zahlen reinster Freude. Ob ich damit irgendjemandem etwas beweisen möchte, fragt man mich weiter, und ich antworte: Niemandem möchte ich damit etwas beweisen, nicht einmal mir selbst. Manchmal sage ich zu meiner Entschuldigung auch: Ohne das Radfahren wäre ich gar nicht mehr am Leben. Oder: Das Radfahren diene in Wahrheit meinem Schreiben. Mein Rennrad sei eine Art rollender Schreibtisch. Doch in Wahrheit ist es ein Rennrad.


Bereits Camus hatte sich in seinem berühmten Essay über das Absurde Sisyphos insgeheim als Radfahrer vorgestellt. Die Götter hatten, so schreibt er, Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder hinunterrollte. Sie hätten ihn genauso gut auch dazu verurteilen können, mit einem Fahrrad den Berg hoch- und wieder herunterzufahren. Wo ist der Unterschied? Manche Fahrradbesessene befahren sogar Tiefgaragen, nur um Höhenmeter zu sammeln. 

Bei all dem stellt sich natürlich die Frage nach dem Warum? Genau das ist nach Camus die entscheidende Frage: die Sinnlosigkeit von all dem – und diese Sinnlosigkeit irgendwie zu ertragen, ja, in ihr sogar einen gesteigerten Sinn zu finden. Darin liegt nach Camus eine asketische Würde. Und er fügt hinzu: Und das alles für nichts, nur um zu wiederholen und auf der Stelle zu treten. Sisyphos könnte also ein Radfahrer sein. Oder ein Radfahrer ein moderner Sisyphos. Nach Camus ist Sisyphos die Metapher menschlicher Existenz. Man könnte aber auch sagen: der Radsport ist ein Inbild des Absurden. 


Radfahren ist gelebte Paradoxie. Sich selbst erzeugende Automobilität, ohne ein Auto zu sein, sondern eben ein Fahrrad. Man tritt, wie Camus schreibt, auf der Stelle, und kommt dennoch voran, erreicht sogar unglaubliche Distanzen. Man erfährt die Welt, ohne auch nur ein einziges Mal mit den Füßen den Boden zu berühren. Ein fahrendes Fliegen, ein fliegendes Fahren. Viel-leicht ist das die Quintessenz: die Bodenlosigkeit von all dem.


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Joachim Zelter hockt vor einem Spiegel.
© Yvonne Berardi

Joachim Zelter

wurde 1962 in Freiburg geboren. Er studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller. 2010 wurde er mit Der Ministerpräsident für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen von ihm erschienen Die Verabschiebung (2021), Professor Lear (2022) und Staffellauf (2024).  Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den begehrten Preis der LiteraTourNord. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Deutschen PEN.

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