Die Heatmap der Stadt war am glowen wie ein Komet bei Eintritt in die Atmosphäre, und ich schlurfte trotzdem durch die Straßen, auf der Suche nach Ablenkung von dem Molotowcocktail in meiner Brust. Den Kopf hatte ich über mein Handy gebeugt, um die heißesten Stellen auszumachen, ihnen auszuweichen und zu vermeiden, dass das Eiweiß in meinem Hirn denaturierte, in der Hand ein Litchi Soda mit Strawberry und Peach Boba, in der Hoffnung auf ein wenig Abkühlung. So ging ich hitzig und schwitzend durch die Straßen, saugte eine Bubble nach der anderen durch den Strohhalm, ließ sie genüsslich auf meiner Zunge zerplatzen, niemand konnte mich daran hindern, und geriet unversehens in eine merkwürdige Szenerie auf dem Kohlmarkt. Ein älterer Herr hatte eine Boombox auf seinen Rollator gestellt, spielte Paradise Now von Udo Lindenberg und tanze mit hüftwackligen Schritten. Manchmal riss er die Arme zitternd nach oben und rief: Yeah, Yeah, Yeah, Paradies jetzt!
Einige Meter weiter stand ein Kind mit Leuchtschuhen auf dem Rand des Kohlmarktbrunnes, hinter ihm spien die fischschwänzigen Tritonen Wasser durch ihre Hörner. Vor dem Brunnen eine Ansammlung anderer Kinder, hinter ihnen ein Haufen Roller, mit denen sie hergekommen zu sein schienen. Manche davon auch mit blinkenden Rädern, die sich leise surrend nachdrehten. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen.
Jedes Mal, wenn das Kind einen Schritt zur einen oder anderen Seite machte, erstrahlten seine LED-Sohlen so hell, dass alle Umstehenden sich die Augen abschirmen mussten. Das Kind hielt einen Vortrag. Alle klebten ihm an den Lippen. Mir erschien er mehr oder minder zusammenhangslos. Eventuell hatte mein Hirn doch schon Schaden genommen. Schweiß tropfte von meiner Stirn.
Ich wollte weitergehen, blieb aber. Ließ mich auf dem Boden nieder und starrte auf das sonnenhelle Sohlenleuchten. Das Kind schien aufgebracht. Es hielt einen Flummi in die Luft. Es forderte uns auf, zu werden wie Flummis seien. Ich googelte die Eigenschaften von Flummis, auch um mich von der Rede abzulenken, die mehr und mehr einen seltsamen Sog entfaltete und etwas in mir aufrührte. Die deutsche Wikipediaseite hatte nur einen sehr kurzen, nicht hinreichend mit Belegen ausgestatteten Beitrag über Flummis zu bieten. Das bedeutete, dass die Seite immer in Gefahr war, demnächst gelöscht zu werden. Dieses Prekäre schien mir auch die Besitzverhältnisse zu Flummis auszumachen, die einem jederzeit davonspringen können, und im Untergrund meines Bewusstseins setzte sich hier schon etwas mit den Worten des Kindes zusammen. Ich las, dass die als Flummi bezeichneten Bälle durch die Eigenschaften ihres Materials eine geringe Elastizität, aber eine hohe Sprungkraft hätten. Sie verlören beim Auf- und Abprall deswegen nur einen kleinen Teil ihrer kinetischen Energie an innere Verformungs- und Reibungsvorgänge und behielten dadurch ihre Geschwindigkeit (genauer: den Betrag ihrer Geschwindigkeit) fast vollständig. Dieses Verhalten komme dem physikalischen Konzept des Elastischen Stoßes recht nahe.
Das Kind war von Flummis zu Feuerzeugen übergegangen: Ihr könnt nicht alles auf einmal anzünden, auch wenn ihr das wollt. Auch wenn wir alle das wollen. Aber ihr könnt überall kleine Feuer machen. Am Feuer kann man sich wärmen. Man kann sich zusammenfinden. Man kann das Feuer weitertragen. Auch so kann ein Flächenbrand entstehen.
Alle jubelten. Ich auch. Es kam einfach über mich. Das Kind begann pinke BIG Feuerzeuge und Flummis in die Menge zu werfen. Flummis sprangen in und über die Menge. Der ältere Herr sang: Aber sonst ist heute wieder alles klar. Auf der Andrea Doria. Ich fischte mir einen Flummi aus der Luft. Das Kind verschwand; plötzlich. Der Lichtabdruck seiner Sohlen blieb noch eine Weile auf meiner Netzhaut zurück. Wieder zuhause, benommen auf dem Sofa mit einer Kältekompresse auf der Stirn, fragte ich mich, ob ich einer Fata Morgana oder einer hitze- und stressinduzierten psychotischen Episode erlegen war. Aber in meiner Hosentasche steckte der Flummi. Ich legte ihn auf die Kältekompresse, schloss die Augen und summte leise: Und ich glaub', dass unser Dampfer bald untergeht. Da da da da da da da.
Lisa Krusche
ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie lebt in Braunschweig. Krusche studierte Germanistik und Kunstwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und Literarisches Schreiben in Hildesheim. 2019 war sie Finalistin beim 27. open mike. 2020 las sie bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt und erhielt den Deutschlandfunk-Preis. Ihr Roman Unsere anarchistischen Herzen erschien 2021. Im Juli war Lisa Krusche in Bremen beim Festival Galaxie der Bücher mit ihrem Jugendroman Das Universum ist verdammt groß und supermystisch zu Gast.