Satzwende: Matthias Politycki (2/2)

Koffer in Unterführung
© Rike Oehlerking

Die demokratische Urtugend des Gelten-Lassens

Eine Reise führt uns auch aus dem Eigenen, Vertrauten hinaus. Sie weitet nicht nur den Blick und die Gedanken, sie macht für viele von uns den Alltag daheim auf Dauer erst erträglich.

Zum Zeitpunkt, da ich diesen Text schreibe, leben wir alle schon über ein Jahr, mehr oder weniger festgesetzt durch den Lockdown, ohne derartige Auszeiten vom eigenen Umfeld, vom eigenen Selbst. Und haben gemerkt, wie beengt, ja beschränkt unser Denken dadurch wurde, wie es immer wieder nur um dieselben Fragen kreist. Wie unsre Antworten immer unduldsamer ausfallen. Wie aggressiv wir inzwischen auf alles reagieren, was nicht punktgenau unsrer Haltung entspricht. Wie wir im öffentlichen Gespräch einander aufs Niederträchtigste anfeinden und ausgrenzen, schon beim geringsten Anlaß zur Empörung bereit. In der Fremde, und gar auf einer Expedition, wären wir vorsichtiger. Wir würden mit offenen Augen in die Welt sehen – wachsam, gewiß, vor allem aber auch neugierig. Und gerade einer, der nicht derselben Meinung ist wie wir, kann uns dann oft den entscheidenden Hinweis geben oder sogar ein guter Weggefährte werden.

So gesehen ist jede Reise nicht nur ein Abenteuer, sondern praktische Einübung in die demokratische Urtugend des Gelten-Lassens. Sie ist ein Beitrag zur Völkerverständigung, nicht zuletzt auch eines Volkes mit sich selber. Es muß nicht immer gleich eine Expedition sein.

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Matthias Politycki

wurde 1955 geboren und schreibt, seitdem er 16 ist. Sein Werk besteht heute aus über 30 Büchern, darunter Romane, Erzähl- und Gedichtbände sowie Sachbücher und Reisereportagen. Er gilt als großer Stilist und ist einer der vielseitigsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur. Matthias Politycki wurde unter anderem mit dem Preis der LiteraTour Nord (2010) und dem Literarischen Landgang Stipendium des Literaturhauses Oldenburg (2015) ausgezeichnet. 2020 erschien sein Roman Das kann uns keiner nehmen (Hoffmann & Campe), für den er um ein Haar in Afrika gestorben wäre.

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Porträt des Schriftstellers Matthias Politycki
© Mathias Bothor

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