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Erst vier Uhr. Ich liege wach. Das Herz. Tabletten gestern in der Küche vergessen. Odysseus sitzt am Bettende und starrt mich mit gelben Augen an. Adam kommt um acht. Bis in die Küche sind es im Grunde nur dreiundzwanzig Schritte plus Treppe. Bei mir sind es dreimal so viele. Ich setze mich auf, schiebe die Beine über den Bettrand. Sechsundachtzigjährige Beine bieten einen seltsamen Anblick. Diese im Besonderen. Vier Jahrzehnte an Buchregalen entlang. Stabi. Ost, natürlich. Nein, nicht Stasi: Stabi. Staatsbibliothek. Schöner Bau. Jetzt noch den zweiten Filzschlappen finden. Ist wieder irgendwo unterm Bett, Bermudadreieck der Wohnung. Ja, gereist bin ich immer. Mit den Augen auf Papier. Der erste Satz, der erste Schritt, gewöhnlich am schwersten, die Balance, solche Dinge. Odysseus ist schon dreimal den Flur hin und her, bis ich gerade mal bei der Zimmertür bin. Diese kleinen gewischten Schrittchen. Mehr macht die Hüfte nicht mehr mit. Zu weit gelaufen. Hätte den Morgenmantel anziehen sollen. Aber schon genauso weit von der Treppe entfernt wie vom Bett. Diese elende Treppe. Wer wohnt mit sechsundachtzig in einer Maisonette? Nur Berliner. Umsetzwohnung hieß das. Sanierung. Und danach dann die alte Wohnung plötzlich nicht mehr gemütliche Innenkabine, sondern Außenkabine mit Sonnendeck. Auch preislich. Bin ich hiergeblieben. Da sind wir schon am ersehnten Absatz. Immer schön beide Geländer fassen. Das zweite hat Adam mir angebaut. Außerhalb seiner Dienstzeit. So ist er. Erzählt manchmal von seinem Fußweg von Damaskus hierher. War auch mal Bibliothekar. Dann Vertreibung aus dem Paradies. Darum Adam. Ist jetzt Altenpfleger. Wohnt im Wohnheim, arbeitet im Altenheim. „Komm endlich zu uns“, sagt er jeden Tag. Und dann: „Was Besseres als den Tod findest Du überall.“ Wir haben den gleichen Humor. Wo war ich? Erste Stufe nehmen, ja. Es soll Menschen geben, die sich in Kapseln die Niagarafälle hinabstürzen. Nächste Stufe. Und Jordan heißt auch nichts anderes als der Herabsteigende. Aber er muss das nicht im Nachthemd tun. Dieses Rauschen im Kopf. Ich setze mich kurz. Abraham war uralt, als er ins gelobte Land aufbrach. Ich will vorerst nur in die Küche.
Svenja Leiber
wurde 1975 in Hamburg geboren, wuchs in Norddeutschland auf und verbrachte als Kind einige Zeit in Saudi-Arabien. Sie studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte und wohnt heute mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Berlin. 2005 debütierte sie mit dem Erzählungsband Büchsenlicht (Schöffling & Co.). Zuletzt erschien ihr Roman Kazimira (Suhrkamp 2021), aus dem Leiber bei der Literarischen Woche 2022 in Bremen liest. Darin erzählt die Autorin vom größten Bernsteinabbau der Geschichte. Im Aufstieg und Verfall der Annagrube und in ihrem Nachwirken im heutigen Russland spiegeln sich drängende Fragen: Woher rühren Hass und Gewalt? Was geschieht, wenn Leben für unwert erklärt wird? Die Frauen, denen der Roman einfühlsam über fünf Generationen folgt, entwerfen eine Gegenwelt – im Mittelpunkt: Kazimira und ihr Ringen um Selbstbestimmung.