Ich habe noch die Adern der Erde, die blauen Flüsse auf dem Weg zum Meer, die vielen Kilometer Flusslauf vor Augen.
Schon als Mädchen kannte ich die Flüsse meiner Region, den Tolten, Cautin, Cholchol. Sie alle kamen aus den Anden Kordillere, und ihre Wege waren weit. Sie führten durch die Gesteine der Berge, durch Urwälder und ruhige Täler bis zur gewaltigen Mündung ins Meer.
Auf der Suche nach ihren Wegen hatten die Flüsse etwas Verspieltes, änderten ihre Namen, wurden von kleinen Bächen zu reißenden Strömen, nahmen andere Flüsse mit, flossen mit ihnen weiter. Sie hinterließen fruchtbaren Boden, auf dem Getreide, Gemüse und Obstbäume prächtig gediehen. Im Frühling leuchtete an den Ufern das frische Grün der Trauerweiden, und die Wiesen waren mit gelben und rosafarbenen Blumen gesprenkelt. An der Mündung zum Pazifik hatten die Flüsse eine enorme Größe erreicht und konnten sich in Ruhe ausbreiten. An ihren Ufern gab es die schönsten Strände meiner Kindheit. Erst dort, wo die Flüsse auf die Wellen des Meeres und seine Unterströmungen trafen, wurde es gefährlich.
Als ich meine Flüsse in späteren Jahren noch einmal besuche, sind sie nicht mehr zu erkennen. Sie tragen wenig Wasser, die Urwälder sind durch Brände zerstört, und an den Ufern, an denen die Trauerweiden stehen, tanzen die Plastiktüten auf trockenem Boden.
Ich schwimme in braunem Wasser
Wasser voller Giftstoffe
Dreck und Traurigkeit.
Im Wasser von Mutter Erde.
Sie leidet
sie verwelkt und verblüht.
Wurzelwerk, das mal ein Kunstwerk war
verwickelt sich.
Auch ich verwickle mich
in meinen Gedanken
und meine Gedanken
wickeln sich um mich herum.
Sie ziehen mich hinunter
hinunter in das braune Wasser
das Wasser von Mutter Erde.
Hier findest du alle Texte aus dem Literarischen Kulturaustausch 2023 mit Angelika Sinn zum Thema Klimawandel.