Shared Reading: Gemeinsam lesen

Shared Reading - gemeinsames Lesen ist ein neues Konzept der Literaturarbeit, das inzwischen auch in Bremen angekommen ist. Die Trainerin und Leseleitung Kerstin Graumann hat mit uns über ihren Verein DIE LESENDEN e.V. und das Lesevergnügen Bremen - Shared Reading für alle gesprochen.

Shared Reading im Freien
© Annabel Wulferding

Eine Shared Reading Session dauert 90 Minuten. Eine Leseleitung bringt einen Prosatext (Kurzgeschichte, Ausschnitt aus einem Roman, Theaterstück) und ein Gedicht mit, für jeden eine Kopie. Über 60 bis 70 Minuten beschäftigen wir uns mit dem Prosatext. Die Leitung hat den Text im Vorfeld vorbereitet und liest laut, klar, langsam bis zu einer bestimmten Textstelle. Dann gibt es einen Augenblick der Stille, in der die Teilnehmenden nachklingen lassen können, was sie gerade gehört und/oder mit den Augen mitgelesen haben. Diese stille Zeit bietet auch die Möglichkeit, erste Gefühle und Eindrücke zu dem Gehörten in Sprache zu fassen.

Darüber kommen wir ins Gespräch. Vertieft werden die Beiträge der Teilnehmenden durch die Leseleitung, die nachfragt, zum Text zurückführt und Beiträge der Teilnehmenden miteinander verbindet. So geht es in vier bis sechs Abschnitten durch die Geschichte.

Für 20 bis 30 Minuten beschäftigen wir uns dann mit dem Gedicht, das anfangs einmal ganz gelesen wird. Auch hier geht es darum, sich über die Literatur mit sich selbst, den anderen und der Welt zu verbinden.

Wir haben alle reiche Erfahrungsschätze – schmerzhafte, heiter stimmende und alle Facetten dazwischen. Die Große Literatur (in England Great Literature genannt) ist reich an universellen Gefühlen, mit denen wir alle, spontan oder behutsam und wohlwollend begleitet durch die Leseleitung, wieder oder erstmalig in Kontakt treten können UND lernen (oder vertieft üben), unsere Gefühle in Worte zu kleiden.

Und was ist besonders toll am Shared Reading?

Besonders großartig an Shared Reading ist vieles: Es ist immer kostenfrei für die Teilnehmenden. Niemand muss etwas mitbringen außer den Mut, durch die Tür in die Gruppe zu gehen. Niemand muss vorlesen. Auch wer nichts sagt, nimmt teil und beschäftigt sich innerlich mit dem, was die Gruppe mit dem Text erlebt und für sich erarbeitet.

Bei Shared Reading geht es nicht darum, darüber zu sprechen, was wir alles über Literatur wissen. Wir betreiben auch keinen ‚literarischen Kritizismus‘. Shared Reading bedeutet spontanes Fühlen und Denken und dann tiefer Fühlen und genauer Denken als persönliche Antwort auf das, was wir gerade gelesen und gehört haben. Shared Reading ist immer eine unmittelbare Erfahrung. Genau das ermöglicht allen Menschen den Zugang zu der Großen Literatur, die wir als Leseleitung Woche für Woche zur Verfügung stellen.


Wir haben alle reiche Erfahrungsschätze – schmerzhafte, heiter stimmende und alle Facetten dazwischen. Die Große Literatur ist reich an universellen Gefühlen, mit denen wir wieder oder erstmalig in Kontakt treten können.“


Im Laufe der Zeit können wir als Leseleitung und als Gruppe ein – wie wir es nennen – persönliches Wachstum erleben: Die Teilnehmenden werden mutiger, wagen es, ihre Gefühle und Gedanken auszusprechen und der Gruppe mitzuteilen. Sie lernen, wirklich zuzuhören, ausreden zu lassen, andere Meinungen zu respektieren und zu akzeptieren. Auch im Laufe der Zeit entwickelt sich beim Shared Reading ein sicherer Raum, in dem alles gesagt werden kann. 

Durch die unterschiedlichen Texte und das gemeinsame Arbeiten daran entsteht das bereichernde Gefühl einer Herausforderung und ihrer Bewältigung. Durch das gemeinsame Entdecken, Erleben und das Teilen der Gedanken mit den anderen in der Gruppe entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, bei dem alle zum Gelingen des Sprechens über den Text beitragen und sich dementsprechend als gleichberechtigt und -bedeutend wahrnehmen und nicht in einer Zuschreibung als alleinerziehend, arbeitslos, geflüchtet, obdachlos, suchterfahren etc.

Shared Reading ermöglicht: Gruppenzugehörigkeit, persönliches Wohlbefinden, Stärkung der psycho-sozialen Gesundheit. Shared Reading ermöglicht und schafft erfahrungsgemäß und messbar Selbstvertrauen, Empathie, Toleranz und Resilienz.

Mit unserem Projekt können wir die unterschiedlichsten Menschen in unserer Gesellschaft erreichen. Es geht beim Shared Reading auch darum, Integration zu fördern, Rassismus und Ausgrenzung vorzubeugen, freien Zugang für einsame, bildungsferne und in Armut geratene Menschen zu ermöglichen; Schwellenängste gegenüber Kultur und Literatur abzubauen, junge und alte, reiche und arme Menschen, fremdsprachige, belesene, akademisch ausgebildete und bildungsferne Menschen, verschiedene Kultur- und Religionsanschauungen in einem Projekt zusammenzubringen und Begegnung und Austausch zu fördern. Shared Reading verbindet über und durch die Literatur und bietet Anlauf- und Begegnungsorte für Menschen, die neu ankommen – und für solche, die schon lange hier sind.

In welchen Kontexten, also an welchen Orten und in welchen Einrichtungen, gibt es denn zum Beispiel Shared Reading?

Shared Reading findet in England (wo es vor über 20 Jahren entwickelt wurde) statt in Gemeinschaften wie Büchereien und Cafés, in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen, Strafvollzugsanstalten, mit Kindern und Jugendlichen, mit Familien – in Präsenzgruppen, online und auch telefonisch.

Wir hier in Bremen bieten zurzeit vier Gruppen an: im Quartier Huckelriede, in der östlichen Vorstadt, in der Neustadt und online. Wir möchten Shared Reading vor allem dort anbieten, wo das Miteinander, das Lesen, das Vertrauen in sich und andere noch in den Kinderschuhen stecken und Einsamkeit, Ängste und Unsicherheiten groß sind.

Shared Reading
© DIE LESENDEN e.V.

Welche Literatur eignet sich besonders gut dafür?

Wir sind fest überzeugt, dass großartige Geschichten, Romane, Schauspiele und Gedichte Instrumente sind, die den Menschen helfen zu überleben und gut zu leben, und deshalb arbeiten wir als Leseleitungen daran, sie in das Leben und unsere Gruppen einzuweben. Unsere Definition von Großer Literatur ist, dass sie die Kraft hat, unterschiedlichste Menschen zu berühren und dass sie in uns zum Klingen bringt und sichtbar macht, was uns als Menschen verbindet. Mit Großer Literatur reisen wir durch Zeit und Raum und begegnen über alle kulturellen und sozialen Grenzen universellen tiefen menschlichen Gefühlen und gelebten persönlichen Erfahrungen, die Teilnehmende sagen lässt: Ich wusste gar nicht, dass andere das auch so empfinden können.


Wir sind fest überzeugt, dass großartige Geschichten, Romane, Schauspiele und Gedichte Instrumente sind, die den Menschen helfen zu überleben und gut zu leben.“


Es geht im Shared Reading nicht um einen bestimmten Literaturkanon. Große Literatur ist reich an besonders tiefen und vielschichtigen Versuchen in Worte zu fassen, was es bedeutet, lebendig zu sein. Aus Erfahrung wissen wir, dass es helfen kann, gemeinsam auf einige der schönsten UND der schlimmsten Dinge zu schauen, Konfrontationen gemeinsam zu erleben und unsere Hoffnungen und Ängste nach außen zu tragen. Deshalb verwenden wir Große Literatur. Wir Menschen brauchen sie.

Ihr bildet zur Leseleitung aus – was lernt man da?

Die Leseleitung wählt für jede Shared Reading-Session die Literatur aus, bereitet sie vor und begleitet die Gruppe auf ihrer Entdeckungsreise durch die Texte. Während der Ausbildung (24 Stunden an insgesamt vier Tagen) haben die zukünftigen Leseleitungen die Möglichkeit, das Leseformat Shared Reading kennen und verstehen zu lernen. Da geht es um verschiedene Fähigkeiten wie Anteilnahme, den Umgang mit unterschiedlichsten Gruppendynamiken oder die Ermunterung der Teilnehmenden. Außerdem beschäftigen wir uns mit der Literatur und ihre Wirkkraft im Shared Reading.

Die jungen Leseleitungen werden nach der Ausbildung kontinuierlich von mir begleitet und weitergebildet. Die Ausbildung kostet zurzeit 500 bis 900 €. Wenn es uns gelingt, Unterstützer und Sponsoren für unser Projekt zu finden, möchten wir auch Stipendien für Leseleitungs-Ausbildungen vergeben.

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