Di Lu Galay habe ich im November 2017 in Santiago de Chile kennengelernt, und zwar im Rahmen des von Indra Wussow kuratierten Projektes Transformation & Identität, Trauma & Versöhnung der Sylt Foundation aus Johannesburg. Er brachte nach Chile ein Konvolut von Gedichten mit, die Maung Day, Ko Ko Thett und Ke Su Tar aus dem Birmanischen ins Englische übertragen hatten, und ich staunte über die kühnen rhetorischen Figuren und fragte mich, wie man diese ironisch-rhetorischen Gedichte über eine konservative Gesellschaft Myanmars, die der Militärdiktatur endlich entronnen war und einen Aufbruch ins neue Zeitalter erlebte, ins Deutsche übersetzen könnte.
Eine Übersetzung aus einer Übersetzung ist immer eine heikle Sache, da man vieles intuitiv erahnen muss – man darf vor allem keine Angst haben, Fehler zu machen. Aber man muss eine poetische Vorstellung von der Dichtung haben, deren Sprache und Schrift einem zudem komplett fremd sind. Zum Glück konnte ich in Santiago de Chile mit Di einen ganzen Monat verbringen und zu seinen Gedichten Fragen stellen. Eine Maus, die gerne ein Elefant werden möchte – dieses ironische Bild aus einem seiner Gedichte kannte ich auch aus meiner sozialistischen Sozialisation in Polen, wo Omnipotenz, Megalomanie und Idiosynkrasie bei manchen Karrieristen und Funktionären an der Tageordnung gewesen waren.
Die menschliche Psychologie lässt sich also – universell betrachtet – schon in eine andere Sprache „übersetzen“, klar. Aber was tut man mit solchen Metaphern und Ausdrücken, die man als Übersetzer und Lyriker nicht versteht? Wie entschlüsselt man ihre versteckte Botschaft? Wie kann sich ein lyrisches Ich – in einem Gedicht von Di – sein Zuhause in den Fuß stopfen, das anschließend Sprünge hat wie eine kaputte, zerkratzte CD? Schreibe ich also in der deutschen Übersetzung: Ich stopfe mir mein Zuhause in die Socke? Sein Zuhause in den Füßen bzw. in einer Socke verstecken – ich fragte mich, ist die englische Übersetzung missraten oder handelt es sich im Englischen oder gar im Birmanischen um ein idiomatisches Bild? Ich musste mich an manche surrealistischen Bilder von Di gewöhnen und mir sagen, ja, nicht alles müsse so klingen, wie ich es als Lyriker und Übersetzer in unserer Kultur gewohnt bin.
Dis Gedichte kreisen oft um Gewalt und Angst vor dieser, und seit dem Militärputsch im Februar 2021 in Myanmar verstehe ich besser, warum die Gewalt in Dis Lyrik ein immer wiederkehrendes Motiv ist, wie zum Beispiel in dem kurzen Gedicht Rennen, verstecken, schießen und töten – er wuchs ja in einer Militärdiktatur auf. Während der Arbeit an der Übersetzung beschränkte sich unser Kontakt auf kurze, sporadische Nachrichten auf WhatsApp, da Di selten und nur für kurze Dauer das Internet nutzen konnte, sodass sich unsere Gespräche und unsere Begegnung in Santiago de Chile plötzlich als äußerst hilfreich entpuppt hatten.
Grundsätzlich ist es stets schwierig, die Stimmung eines Gedichts möglichst getreu in der Übersetzung widerzugeben. Man braucht manchmal fremde Hilfe. Ich dachte während des Übersetzens an Alfred Hitchcocks Filme, weil sie voller Geheimnisse und unerwarteter Wendungen sind wie Dis Gedichte: Ein Kaninchen oder ein Oktopus spiegeln symbolisch unsere Ängste oder unsere Grausamkeit wider; eine Taube unter dem Bett wird zu einem Monster, das eigentlich in uns wohnt wie Die Vögel von Hitchcock.
Ich fragte mich immer wieder: Wie übersetzt man solche monströsen und kafkaesken Bilder, die in Wahrheit über eine kalte und politisch korrupte Welt einen nüchternen Bericht erstatten? Dis Hauptthema ist nämlich die Macht und deren Missbrauch – im Staat, in der Familie, in den Medien. Seine Sprache ist auf den ersten Blick einfach gestrickt aber überbordend von Ironie. Übersetzte man diese Stakkato-Sätze und Wiederholungen eins zu eins, hätte man nichts weiter als einen kitschigen Wörterbrei evoziert.
Ich musste also bei der Übersetzung Dis Rhythmus erahnen und entfalten. Seine Gedichte klingen nämlich oft wie Punksongs, er ist in seiner Lyrik auch in der Popkultur tief verankert. Liest er seine Gedichte vor, so stets mit einer lauten, ein wenig hysterisch klingenden Stimme, die an die Songs von Ramones und Sex Pistols erinnert.
Zum Schluss, beim letzten Schliff, las ich Dis Gedichte so, als wären sie meine eigenen. Ich prüfte den Rhythmus und strich ein Wort oder fügte ein neues hinzu. Es ist also auch meine Dichtung, meine Lyrik, die hier vorliegt. Der Übersetzer ist nämlich auch Autor.
Artur Becker
wurde 1968 in Bartoszyce (Masuren)/Polen geboren. Bereits für sein erfolgreiches Lyrikdebüt Der Gesang aus dem Zauberbottich (1998) wurde er mit dem Autorenstipendium der Stadt Bremen ausgezeichnet. Der aus Polen stammende Autor, der 1985 nach Deutschland umsiedelte und in Bremen studierte, schreibt ausschließlich auf Deutsch – seiner Literatursprache. Sein literarisches Terrain umfasst jedoch nachhaltig die Region seiner Kindheit. Artur Becker schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte und Aufsätze und ist auch als Übersetzer tätig.
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