Brennnesseln hängen über der niedrigen Holzbrücke und dem Trampelpfad dahinter. Sie weicht ihnen mit ihren nackten Beinen aus, ein zaghafter, gleitender Tanz im Dämmerlicht. Im Schatten zappeln Mückenschwärme, stehen Schwebfliegen. Der Aussichtspunkt ist von Büschen halb überwuchert und als sie den Eingang erreicht, rümpft sie die Nase, verfaulendes Holz, schwarz geschwelte Balken. Der Geruch hat sich festgesetzt und weckt unangenehme Erinnerungen. Graffiti, Sprüche, sie sieht daran vorbei, will nicht wissen, wer nach ihnen hier war. Alles ist siffig, Angst und Ekel legen sich wie eine kalte Hand zwischen ihre Schulterblätter. Sie tut einen Schritt Richtung Abendsonne, die durch den Ausguck scheint und helle Reflexe auf das schwarze Wasser wirft. Es ist still. Sie legt die Arme auf die Brüstung und hört den Schmerz in sich anschwellen. Ein geronnener Schrei drückt an dem Kloß in ihrem Hals, kämpft gegen die Schlinge um ihre Brust. Sie versucht, ihn in den Griff zu bekommen, nach einem Jahr hat er nur die Intensität eines fernen Alarms, bei dem man aufhorchen würde, aber nicht ans Fenster treten. Aber hier will er heraus. Ein Vogelschutzgebiet, in dem Wasserpfeffer-Tännel und Nadel-Sumpfsimse wachsen. Sie hatte sich erst nicht wieder hierher getraut, aber sie glaubt, dass sie es ihr schuldig ist. Auf der glänzenden Oberfläche erlöschen langsam die schimmernden Punkte und das Licht fällt hinter den Horizont. Sie denkt an das, was unter der dunklen Oberfläche liegt. Weiße Knochen in dunkelgrünen Algennestern, Augen, längst von Fischen gefressen. Sie schaudert, fröstelt, verschränkt die Arme vor der Brust. Sie wollte am Jahrestag ihr nasses Grab besuchen. Es weiß doch keiner, wo sie ist. Und sie will es los sein. Was geschehen ist, ist geschehen. Sie selbst lebt doch noch. Oder?!
Zitternd stößt sie sich von der Brüstung ab, tritt zurück von dem See, der da liegt wie ein riesiges Lebewesen, bereit sie ebenfalls zu verschlingen. Fehler. Sie würde nur neue, schlechte Erinnerungen an diesen Ort mit nach Hause nehmen. Sie dreht sich um, aufflammende, prickelnde Panik im Magen. Die niedrige, muffige Holzdecke drückt sie nieder, sie strauchelt, fängt sich an der Wand auf, ihre Hand liegt direkt neben dem Wort „Verzeih!“, das jemand dort ins Holz geritzt hat.
Die Angst stürzt auf sie zu wie der Schatten, der im feuchten Unterholz lauert. Das Brennen an den Waden ist ihr egal, als sie über den Pfad rennt und die haarigen Strünke der Nesseln niedermäht. Ein paar Meter, dann hat sie die Brücke erreicht, auf der anderen Seite steht ihr Fahrrad.
Und jemand daneben.
Sie sieht seine hellen Haare, will ins Dunkel zurück, kann nicht, bleibt wie festgefroren stehen. Seit einem Jahr hat sie ihn fast nur aus der Ferne gesehen. Er wendet ihr den Blick zu, die Augen im Dämmer schwarz.
„Dass ich dich hier treffe.“
„Was hast du denn gedacht?“ Patzig. Hat er geglaubt, sie habe es einfach vergessen? Ihn? Wo hatte er das in sich vergraben? Ein Geheimnis so schwarz wie der See.
„Ich habe niemandem etwas erzählt“, murmelt sie hastig.
Seine Augen werden schmal.
Sie fragt sich, wo die anderen Ausflügler stecken, die sonst hier fahren.
„Ich vermisse sie so“, sagt er leise, sieht sie an, als erwarte er eine Antwort. Sie geht jetzt langsam zu ihrem Fahrrad, spürt ihre Beine nicht, es wird erst besser, als das Rad zwischen ihnen steht.
„Aber es ist doch deine Schuld,“ sagt sie schnell und grob. Es tut gut, es auszusprechen, ein Hochgefühl. Sie springt auf, fahrig, ungeschickt.
Zu ihrer Überraschung rührt er sich nicht. Sie spürt seinen Blick in ihrem Nacken, der sich verkrampft, dann den Fahrtwind auf den nassen Wangen.
Meike Dannenberg
ist Literaturredakteurin beim Magazin BÜCHER. Ihre Kriminalromane Blumenkinder (2016) und Gefährdet (2019) aus der Reihe um die BKA Ermittlerin Nora Klerner und den Fallanalytiker Johan Helms sind bei Randomhouse/btb erschienen. Seit 2013 lebt sie mit ihrer Familie in Bremen.
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