„Unerwartungen“: Lilli Rother

Ein Baum spiegelt sich in einer Glaskugel.
© Rike Oehlerking

Dieser Text ist im Seminar Kreatives Schreiben zu Kunst bei Anke Fischer im Wintersemester 2023/24 entstanden. Aufgabe war es, einen Text zum Thema Unerwartetes zu schreiben. Lilli hat sich vom Kunstwerk Schutzhütte 2 von Franz Ackermann inspirieren lassen. Ihr Text erschien zuerst im Studierendenblog Blogsatz, der von der globale, der Universität Bremen und dem virtuellen Literaturhaus organisiert wird.

In einer Welt wie der unseren gibt es viele Selbstverständlichkeiten, denke ich
Regeln und Gesetze, Theorien und Hypothesen, Normen und Vorschriften
Ich stehe draußen, laufe auf und laufe ab, schau herauf und schau herab
Häuser, Straßen, Zaun ohne Garten, Antennen ragen ins Grau
Ich kenne das schon
Das ist nichts, womit man hier alleine ist
In der Großstadt ist man einsam, ihr wisst was ich meine
Ihr kennt das schon
In einer Welt wie der unseren gibt es viele Regelmäßigkeiten, denke ich
Lieder reimen sich, Eltern streiten sich, Männer weinen nicht
Ich schau nach rechts, ich schau nach links, und geradeaus
Alle schauen geradeaus
In einer Welt wie der unseren gibt es viele Allgemeingültigkeiten, denke ich
Gesetze der Natur ziehen mich herunter wie die Schwerkraft, was es schwer macht
Hier zu stehen in der Lücke zwischen Wissenschaft und Glaube
Aber ich glaube
Heute habe ich gesehen, wie ein Baum von oben wächst, sage ich
Die Wurzeln in den Wolken, jeder Sonnenstrahl ein Ast
Streckt die Blätter in den Schatten dieser Stadt
Du glaubst mir nicht?
Ich hab nichts anderes erwartet
Gestern habe ich gesehen, wie ein Mann die Treppe nahm nach unten, sage ich
Und als er ankam, stand er auf dem Dach und hat gewunken
Du glaubst mir nicht?
Ich hab nichts anderes erwartet
Morgen werde ich erleben, dass mein Haus sich häutet wie eine Schlange, sage ich
Von oben nach unten, von innen nach außen und zurück
Hast du das schon mal erlebt?, frage ich
Du nickst
Ich sage nichts
Morgen werde ich ein Tauziehen machen mit der Zeit, sagst du
Und wenn ich gewinne, dann gibt sie mir Unendlichkeit
Ich schaue auf die Uhr und dann in dein Gesicht
Ich sehe dich
Und du siehst mich
In einer Welt wie der unseren gibt es zu viel Erwartungshaltung, sagst du nach einer Weile
Und lächelst zögerlich
Ich sage nichts
Ich hab was anderes erwartet


Lilli Rother

wurde in Hannover geboren und lebt inzwischen seit vier Jahren in Bremen. Schon als Kind hat si am allerliebsten überall gelesen, wo sie nur konnte – wenn sie gerade keine Auswahl hatte, auch gerne das gleiche Buch fünfmal hintereinander. Irgendwann hat sie angefangen selbst zu schreiben, von Kurzgeschichten über Poetry Slams und Gedichte bis hin zu Songs war eigentlich alles schon dabei. An der Uni Bremen studiert sie Psychologie, aber das Lesen und Schreiben ist noch immer ein großer und wichtiger Teil ihres Lebens und ein Ventil für sie. Die richtigen Worte zu finden, hält sie für eine große Kunst.

Zu Lillis Texten auf Blogsatz

Das Portraitfoto zeigt Lilli Rother auf einer Brücke im Sommer.
© privat

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