Annika Depping: Was ist an Doctor Who, Sherlock Holmes und Agatha Christie politisch? Eigentlich alles! Diese Antwort jedenfalls gibt Mithu Sanyals zweiter Roman Antichristie, in dem sich das Erzählen von Zeitreisen und die Aufdeckung postkolonialer Strukturen nicht ausschließen. Auf über 500 Seiten geht es um den indischen Widerstandskampf im London des frühen 20. Jahrhunderts und die Arbeit an einem Drehbuch für eine politisch korrekte Agatha-Christie-Verfilmung im Jahr 2022. Wer es humorvoll mag und Lust hat, zu lernen, was die Entnahme von Fingerabdrücken mit Kolonialismus zu tun hat, ist hier genau richtig. Mit viel Freude am Fabulieren deckt die Autorin Teile der Weltgeschichte auf, über die wohl die wenigsten Deutschen bisher im Bilde sind. Denn es wird auch deutlich: Die politischen Kämpfe unserer Gegenwart spiegeln die der Vergangenheit. Ein spannender, kluger Roman!
ANTICHRISTIE | Mithu Sanyal | ROMAN Hanser Verlag | München 2024 | 544 S. | €25,00
Larissa Beck: In Ökoroutine verbindet Michael Kopatz Umweltbewusstsein mit politischen Lösungen auf eine zugängliche Weise. Der Autor zeigt, dass eine nachhaltige Lebensweise nicht nur durch individuelles Handeln möglich ist, sondern auch durch die richtigen politischen Rahmenbedingungen. Außerdem veranschaulicht er, wie politische Entscheidungen – zum Beispiel bei Steuern, Subventionen oder Infrastruktur – den Alltag der Menschen so verändern können, dass nachhaltige Gewohnheiten viel leichter umzusetzen sind, ohne dass sie große Abstriche machen müssen. Er argumentiert, dass es einer systematischen Veränderung von Anreizen und Strukturen bedarf, um ökologische Routinen für die breite Bevölkerung attraktiv und einfach zu gestalten. Dabei zeigt er bereits einige erfolgreiche Beispiele.
Das Buch ist ein wertvoller Denkanstoß, wie wir sowohl individuell als auch politisch mehr für die Umwelt und einen soziokulturellen Wandel tun können. Wer sich für eine nachhaltige Zukunft interessiert, sollte hier unbedingt reinschauen. Durch den kostenlosen Download auf der Verlagsseite ist das sogar ganz einfach!
ÖKOROUTINE: DAMIT WIR TUN, WAS WIR FÜR RICHTIG HALTEN | Michael Kopatz | SACHBUCH oekom verlag | München 2016 | 416 S. | €20,00 oder als kostenloser Download
Pauline Adamek: Mit Underground Railroad hat Colson Whitehead einen der wichtigsten literarischen Texte über Rassismus und Kolonialismus in den USA geschrieben. Nun ist sein bereits 1999 veröffentlichter Debütroman in neuer deutscher Übersetzung erschienen. In Die Intuitionistin thematisiert Whitehead, wie tief die Gräben sind, die der Rassismus in die US-amerikanische Gesellschaft gezogen hat – und erzählt von einer Frau, die unfreiwillig zum Spielball dieses Konflikts wird.
Eine US-amerikanische Großstadt im 20. Jahrhundert. Auf den ersten Blick ist die Fahrstuhlinspektorin Lila Mae eine durchschnittliche Bürgerin – und auf den zweiten Blick der Beweis dafür, dass die US-amerikanische Gesellschaft sich in einem tiefgreifenden Wandel befindet. Lila Mae ist nicht nur die erste Frau, die als Fahrstuhlinspektorin arbeitet; sie ist die erste Schwarze Frau auf diesem Posten. Dass ihre Existenzberechtigung in diesem Berufsfeld eine Ausnahme darstellt, bekommt sie immer wieder zu spüren: An der Akademie für vertikalen Transport, an der sie ihre Ausbildung absolviert, muss sie in eine Besenkammer über der Turnhalle beziehen, da der Campus keine Zimmer für Schwarze Studierende bereitstellt. Auch ihr ausnahmslos männliches Umfeld wird nicht müde, ihre Hautfarbe – und ihr Geschlecht – zu betonen.
Und damit nicht genug. Unter den Fahrstuhlinspekteur*innen droht eine seit Jahren anhaltende Debatte zu eskalieren. Einander gegenüber stehen zwei Lager: Die der Empiriker, deren Inspektion daraus besteht, an jeder Schraube zu drehen und jedes Zahnrädchen zu überprüfen und die der Intuitionist*innen, zu denen Lila Mae gehört, die den Zustand eines Fahrstuhls intuitiv erfassen. Die Verlässlichkeit der Methode des Intuitionismus, die sich eigentlich auf dem Vormarsch der Fahrstuhl-Forschung befindet, wird auf den Prüfstand gestellt, als ein Fahrstuhl abstürzt. Es handelt sich ausgerechnet um einen von Lila Mae untersuchten Fahrstuhl – und dann auch noch im Fanny-Briggs-Building, das nach einer Schwarzen Sklavin benannt wurde. Alles Zufall oder Kalkül?
Whitehead ist es gelungen, Absurdität und bittere Realität zu vereinen. Er erzählt von einer Welt, in der die Protagonistin an der Akademie für vertikalen Transport studiert – wo gibt es so etwas schon? Keineswegs absurd, sondern erstaunlich vertraut ist hingegen, dass eine Frau wie Lila Mae, die ihr eigentlich verwehrte Privilegien mühsam errungen hat und trotz aller Widerstände in diesem System aufsteigen konnte, (Achtung, Fahrstuhl-Metapher!) abzustürzen droht.
DIE INTUITIONISTIN | Colson Whitehead | ROMAN Hanser | München 2024 | 272 S. | € 26,00
Rike Oehlerking: Jeder Mensch hat dieselben Chancen? Wer das glaubt, der sollte unbedingt das Buch Klasse und Kampf lesen. (Und alle anderen auch.) Es ist der buchstäbliche Nachweis, dass die obige Frage negiert werden muss. Auch die deutsche Gesellschaft besteht nach wie vor aus sozialen Klassen, deren Zugehörige es vielleicht schwerer denn je haben, von einer in die andere zu wechseln. Darüber schreiben in der Anthologie, die Ullstein-Lektorin Maria Barankow und der freie Autor Christian Baron initiierten, insgesamt 14 Autor*innen – und das allesamt in sehr persönlichen Texten über ihre Herkunft, über Geld und Bildung, über berufliche Einschränkungen und Möglichkeiten, über Vorurteile, über kulturelle Unterschiede, über Scham, über die Schwierigkeit, unsichtbare Mauern einzureißen. Die Lektüre der divers ausgewählten Beiträge schafft einen feinsinnigeren Blick für Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, Benachteiligungen. Sie ist sicherlich aktueller denn je.
KLASSE UND KAMPF | Maria Barankow und Christian Baron (Hrg.) | ANTHOLOGIE Ullstein | Berlin 2021 | 224 S. | € 20,00
Annika Depping: Der Roman Brown Girls von Daphne Palasi Andreades erzählt kollektiv von Aufwachsen migrantischer junger Frauen in Queens, New York. Ihre Haut hat „die Farbe von 7-Eleven-Root-Beer“, die Wohnungen, in denen sie groß werden, sind eng wie Schuhkartons, oft herrscht Gewalt. Welche Träume erlauben sie sich zu träumen (nachdem sie ihre Brüder im Gefängnis besucht haben)? Welchen Jungs jagen sie nach und von welchen werden sie später ungeplant schwanger? Welche Schulen besuchen sie und welche Jobs können sie als Erwachsene erreichen (oder auch nicht)? Palasi Andreades erzählt aus der Wir-Perspektive äußerst poetisch von sozialem Aufstieg, Stigmatisierung und strukturellem Rassismus und macht ein Panorama an Lebenswegen auf. Ihr Romandebüt hat mich beim Lesen stark beeindruckt und sehr gut unterhalten: divers, melodisch und mit viel Drive erzählt!
BROWN GIRLS | Daphne Palasi Andreades | Übersetzung: Cornelius Reiber | ROMAN Luchterhand | München 2024 | 240 S. | €20,00