Natasha A. Kelly zeigt an der Kunsthalle Bremen aktuell die Intervention Wer war Milli? über Schwarze Frauen im Werk Ernst Ludwig Kirchners und stellt damit allgemeine Fragen nach dem Schwarzen Frauenkörper, nach Rassismus und Sexualisierung. Mit Carmen Simon Fernandez hat sie über das Projekt, Empowerment und Literatur gesprochen.
Wie sind Sie zu Milli und dem Bild von ihr gekommen und was haben Sie rund um Milli bereits für Projekte realisiert?
2017 habe ich in der Kunsthalle Bremen Dreharbeiten für mein Dokumentarfilm für die 10. Berlin Biennale gemacht. Darin interviewe ich acht Schwarze Künstlerinnen über ihre Herausforderungen im Kunst- und Kulturbetrieb. Plötzlich stand ich vor dem Gemälde Schlafende Milli von Ernst Ludwig Kirchner und verspürte den Drang, die Schlafende zu „wecken“. Das Gemälde wurde 1911 gemalt, zur Blütezeit des deutschen Kolonialismus. Das Schwarze Modell ist in ihrer vollen Nacktheit in einer kolonialen Verfasstheit gefangen, die noch bis in die Gegenwart andauert und noch immer die soziale Realität von Schwarzen Frauen in Deutschland bestimmt. Dies hat mich dazu bewegt, mein Film Millis Erwachen (2018) zu nennen. Damit startete ein Prozess, der im Englischen als „Wake Work“ bezeichnet wird. Es kann als eine Art Trauma Aufarbeitung und Trauerverarbeitung verstanden werden.
Es folgten im selben Jahr die Publikation Millis Erwachen. Schwarze Frauen, Kunst und Widerstand mit den ungekürzten Interviews und 2019 die filmische Kommentierung Millis Rising. A Filmythology. In dem Kurzfilm stelle ich durch Spoken Word und Tanz direkte Fragen zu der Figur „Milli“ und ihr Verhältnis zu Kirchner. Nach der Corona-Zwangspause eröffnete dann im April 2022 meine Intervention Wer war Milli? an der Kunsthalle Bremen. Das visuelle Essay ist noch bis April 2023 zu sehen und reflektiert den Stand der Spurensuche: In den Werken von Kirchner tauchen zahlreiche Schwarze Frauen auf. Anhand ihrer phänotypischen Merkmale sehen wir, dass es sich nicht immer um dieselbe Frau handelt. Dennoch werden sie alle „Milli“ genannt, weshalb „Milli“ ein Synonym für ‚Schwarze Frau‘ gewesen sein kann. Im selben Jahr folgte die dreimonatige Gruppenausstellung I AM MILLI mit begleitendem Ausstellungskatalog als kuratorische Antwort auf die Frage, wer Milli war. Darin zeigen zeitgenössische Schwarze Künstlerinnen Ikonografien des Schwarzen Feminismus. Im Rahmen der Gruppenausstellung entstand ein zweiter Kurzfilm With Nelly, der ein zweites Schwarzes Modell von Kirchner in den Diskurs „eintreten lässt“.
Wo sehen Sie das besondere Potenzial der einzelnen Medien – also Literatur, Film und Kunst –, in denen Sie sich schon mit Milli auseinandergesetzt haben?
Unterschiedliche Medien (z.B. Film, Literatur, visuelle Kunst etc.) sind eigenständige Kunstformen und ermöglichen demnach andersgeartete Ansprachen, auch wenn sie alle eine narrative Erzählstruktur haben. Im Vergleich zum Film ist das geschriebene Werk allerdings detailgetreuer. So haben es einzelne Sequenzen nicht in den Film geschafft, weil vielleicht der Ton nicht gestimmt hat oder die Kamera an entsprechender Stelle nicht scharf eingestellt war – die Gründe sind vielfältig. Die Auswahl ist oft vorbestimmt, geht aber auch mit einer Erzählmacht einher, die ich als Regisseurin innehabe. Deshalb war es mir wichtig, diese Machtstruktur zu brechen und die ungekürzten Interviews in einem Buch zu veröffentlichen.
Welche Rolle spielt der Körper Schwarzer Frauen in dem Projekt und in Ihrer Arbeit rund um Afro-Deutsche Kultur, Antirassismus und Dekolonialisierung?
Die Schwarze US-amerikanische Feministin und Kulturkritikerin bell hooks beschrieb den Schwarzen Frauenkörper als „Diskursterrain“, auf dem Rassismus und Sexualität ungefragt aufeinandertreffen. In der weißen Vorstellungswelt werden Schwarze Frauen zum rassifizierten und sexualisierten Objekt stilisiert, auf deren Körperoberfläche widersprüchliche kolonialisierte Imaginationen, wie die ‚Schwarze Venus‘ oder die ‚Schwarze Versklavte‘, geheftet werden. Sie werden stets durch die Wahrnehmung der weißen Beobachter*innen definiert, was mehr über ihre Beobachter*innen als über sie selbst aussagt. Umso wichtiger ist es, mit diesen kolonialisierten Sehgewohnheiten zu brechen.
Um nicht nur die negative Seite zu betrachten – welche Rolle kann der Körper bei Empowerment-Strategien spielen?
Neben Wissen und Macht ist es sehr wichtig, auch den eigenen Körper zu dekolonialisieren. Genaugenommen sind Wissen, Macht und Körper die drei Säulen der Dekolonialen Theorie, die einzeln, aber nie getrennt voneinander betrachtet werden dürfen. Sie bedingen sich gegenseitig: Es gibt Machtkörper, Wissensmacht und Körperwissen etc. Körper sind nie rein biologisch, sondern eben auch sozial konstruiert. Wenn wir dies positiv betrachten, dann können Körper, v.a. Schwarze Frauenkörper als Ausgangspunkt für empowernde Erzählungen genommen werden.
Welche Literatur würden Sie zu den Themen (Anti-)Rassismus, Dekolonialisierung und Körper empfehlen?
Ich bin gerade dabei, mein neues Buch zu schreiben: Schwarz. Deutsch. Weiblich. Warum Feminismus mehr als Geschlechtergerechtigkeit fordern muss, das im Frühjahr 2023 erscheint. Anhand von autobiografischen Erzählungen verhandele ich genau diese Themen aus einer Schwarzen feministischen Perspektive.
Natasha A. Kelly
ist Autorin und Herausgeberin von sechs Büchern, Kuratorin und bildende Künstlerin. Ihre Kunstinstallationen wurden in verschiedenen Museen in Deutschland gezeigt. Ihr Filmdebüt gab sie 2018 auf der 10. Berlin Biennale mit ihrem preisgekrönten und international beachteten Dokumentarfilm Millis Awakening. In Brasilien feierte sie 2019 ihr Theaterdebüt mit der Adaption ihrer Dissertation Afrokultur am Goethe-Theater. Basierend auf ihrem Sammelband Sisters & Souls (2015) gründete und leitete sie das Empowerment-Theater M(a)y Sister in Erinnerung an die afrodeutsche Dichterin May Ayim. Mit dem Reader The Comet - Afrofuturism 2.0 (2020), der aus dem gleichnamigen Symposium 2018 hervorging, bewegte sie sich weg von historischen Darstellungen Schwarzer Deutscher hin zu Zukunftsvisionen. Ihr Buch Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen! (2021) ist eine Antwort auf den Black-Lives-Matter-Sommer 2020.
Dr. Kelly ist Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin und wurde an der Universität Münster promoviert. Sie hat an Universitäten in Deutschland, Österreich und den USA gelehrt.