Der Struwelpeter oder auch Max und Moritz - darf man solche Kinderbücher mit der Moralkeule heutzutage eigentlich noch vorlesen? Carolin Graf hat mit Annika Depping darüber gesprochen, welche Rolle die Moral von der Geschicht' spielt, wenn in der Stadtbibliothek Bremen Kinderbücher angeschafft werden.
Wenn Kinder- und Jugendbücher für die Stadtbibliothek angeschafft werden, welche Kriterien sind für die Auswahl da entscheidend? Welche Rolle spielt dabei die Moral?
Bei der Anschaffung von Kinder- und Jugendliteratur spielt die Geschichte eine entscheidende Rolle. Die Moral ist dabei etwas, das in der Geschichte immer mitschwingt und somit auch eine Auswirkung hat. Aber auch Faktoren wie Bekanntheitsgrad der Reihe oder der Autor*innen, die Illustrationen und die Covergestaltung sind nicht zu vernachlässigen.
Aus welchen (moralischen) Gründen werden Bücher nicht angeschafft oder wieder aussortiert?
Es kann vorkommen, dass Bücher nicht angeschafft werden, weil die Moral, die vermittelt werden soll, entweder fragwürdig ist oder zu sehr im Vordergrund steht. Wir versuchen, auf Bücher mit veralteten Moralvorstellungen oder stark erhobenem Zeigefinger zu verzichten. Diese Titel sind bei Kindern ohnehin nicht sehr gefragt.
Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter ist bei Ihnen zum Beispiel unter Literatur, nicht in der Kinderbibliothek, einsortiert… Welche Überlegung steckt dahinter?
Der Struwwelpeter ist eines der ersten erzählenden Bilderbücher und stammt damit aus einer anderen Zeit. Damals herrschte eine andere Auffassung von Moral und Erziehung als heute. Mit den Geschichten aus dieser Zeit können die Kinder heute recht wenig anfangen. Zudem hat sich die Sprache stark gewandelt. Die damals schon überspitzten Erzählungen sind für Kinder heute aus der Zeit gefallen und vermutlich möchten die meisten Eltern ihren Kindern keine Schreckensszenarien von abgeschnittenen Daumen vorlesen, um ihnen ein moralisches Weltbild zu vermitteln. Dennoch ist der Titel natürlich literarisch bedeutend und damit auch in unserem Bestand, nur eben für Erwachsene und nicht für Kinder.
Der „moralische Zeigefinger“ ist etwas, das von vielen Leser*innen bzw. Eltern inzwischen eher negativ aufgenommen wird. Wie ist Ihre Meinung dazu denn?
Meiner Erfahrung nach haben Bücher, die den moralischen Zeigefinger zu sehr erheben, es eher schwer. Kinder möchten in ihren Erfahrungen begleitet werden und sich selbst in Geschichten wiedererkennen. Sie möchten Spaß haben und eher selbst herausfinden, was richtig und falsch ist, statt deutlich bevormundet zu werden. Ich persönlich bevorzuge auch die Titel, durch die man mit Freude Werte und Neues vermittelt bekommt, ohne Druck oder schlechtes Gewissen.
Haben Sie Tipps für Kinderbücher, die – vielleicht ganz nebenbei – wichtige Werte vermitteln?
Es gibt viele tolle Kinderbücher, die Werte wie (beispielsweise) Freundschaft, Zusammenhalt und Toleranz vermitteln.
Eines der Bücher, das mir wirklich gut gefällt, ist Theo liebt es bunt von Samuel Langley-Swain. Darin geht es um das Wiesel Theo, das sich gerne bunt kleidet. Damit stößt es leider bei den anderen grauen Wieseln nicht auf Wohlgefallen. Es wird sogar gegen Theos Kleidungsstil demonstriert. Theo ist unglücklich. Erst als er durch einen Zufall auf Gleichgesinnte stößt und wegzieht, merken die anderen Wiesel, wie sehr sie Theo und seine bunte Persönlichkeit vermissen… Eine schöne Geschichte, die zeigt, dass jeder gut so ist, wie er ist.
Auch eine schöne Geschichte: Ein Hund namens Drei von Stephen Michael King. Diese Geschichte handelt von einem Hund mit drei Beinen, der die Welt erkundet und dabei so einiges erlebt. Besonders gut an dieser Geschichte gefällt mir die positive Sicht von Drei auf die Welt. Einfach eine tolle Geschichte. Sie ist lustig und vermittelt ganz nebenbei tolle Werte. Denn Drei fühlt sich keinesfalls minderwertig, weil andere Lebewesen mehr Beine haben als er. Eine Botschaft, die wir uns, meines Erachtens nach, zu Herzen nehmen sollten.
THEO LIEBT ES BUNT | Samuel Langley-Swain | Illustration: Ryan Sonderegger | Übersetzung: Ursula C. Sturm | BILDERBUCH Knesebeck | München 2020 | 36 S. | € 14,00
EIN HUND NAMENS DREI | Stephen Michael King | Übersetzung: Bernd Stratthaus | BILDERBUCH annette betz Verlag | Berlin 2021 | 40 S. | € 14,95
Stadtbibliothek Bremen
Die Stadtbibliothek Bremen hat an insgesamt neun Standorten in der Hansestadt ein buntes Programm zu bieten, dient als Ort der Begegnung und der Bildung – und feiert das Lesen. 2.193.000 Besucher*innen verzeichnete die Bibliothek physisch und virtuell im Jahr 2020, 537.000 Medien können derzeit ausgeliehen werden. Natürlich auch das oben vorgestellte Bilderbuch!
Carolin Graf arbeitet seit 2014 bei der Stadtbibliothek Bremen und ist nun Teamleiterin des Teams Kinder, Jugend und Bibliothekspädagogik. Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur gerne mit der Nase zwischen Buchseiten, sondern auch am, im oder unter Wasser.
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