Der Verkauf eines Wohnwagens wird für eine Ich-Erzählerin zum Abschied einer ganzen Lebensphase. Ein erwachsenes Ich blickt auf das Leben der Großmutter und der Mutter zurück und misst den feinen Unterschied zwischen Heimat und Herkunft aus. Ein schreibendes Ich nähert sich alphabetisch sich selbst und kommt zu W wie Wendepunkt, während ein anderes Ich sich in der Mitte seines Lebens einen mahnenden Brief in die Zukunft sendet.
In der Anthologie Und ich - schreiben zwanzig Autor:innen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur „über verschiedene Wendepunkte des Lebens“, wie es im Untertitel heißt. Von großen Zäsuren, die oft schmerzhaft etwas durchtrennen, nur langsam heilen, als Narben ein Leben lang sichtbar bleiben. Aber auch von kleinen Brüchen, die feine Risse ins Leben ritzen, die sich zartfüßig anschleichen und unbemerkt Sicherheiten zerstören.
„Ella versucht sich zu erinnern und kann ihn doch nicht fassen, kann diesen einen Moment nicht finden zwischen den vielen anderen, als sie zum ersten Mal ahnte, dass da was nicht ausreichte.“
(Aus dem Beitrag Den Fuß in die Luft, S. 242)
Herausgeberin Maria-Christina Piwowarski hat mit Und ich – eine bemerkenswerte Anthologie umgesetzt. Eine Sammlung von Texten, deren Ton mal wütend laut, mal nachdenklich leise ist, deren weibliche Stimmen in erdachten und erlebten Geschichten, in essayistischer und lyrischer Sprache vielfältige Perspektiven auf ein verbindendes Thema lenken:
In welchen Momenten unseres Lebens haben wir Halt, Nähe oder Glück erfahren, wo mussten wir uns aus Umklammerungen und Ängsten - insbesondere weiblichen Rollenzuschreibungen - befreien, eine eigene Sprache finden oder eigene Schritte gehen, um den Weg zu uns selbst zu öffnen? Marica Bodrožić, Gabriele von Arnim, Mareike Fallwickl, Zsuzsa Bánk und Rasha Khayat - um nur einige der namhaften Autor:innen zu nennen - setzen sich mit diesen Fragen innerer und äußerer Krisenerfahrungen auseinander und haben ihren jeweiligen Text explizit für die Anthologie verfasst.
Und ich – ist auch ein Angebot an uns Leser:innen: Der Gedankenstrich des Titels kann weitergeführt werden, das lesende Ich kann sich mit den Geschichten und Figuren verbinden, sich zu ihnen positionieren, vielleicht auch distanzieren, vor allem aber eigene Gedanken hinzufügen, die mit „Und ich“ beginnen…
„wie aus der Rückkehr eine Ankunft, ein schreibendes Ich wurde. Wie gut das tat.“
(Aus dem Beitrag „Vom Ich möchte ich sprechen, S. 53)
UND ICH - 20 Geschichten über Wendepunkte des Lebens | Maria-Christina Piwowarski (Hrsg.) | Anthologie park x ullstein | Berlin 2024 | 272 S. | €22,00
Stephanie Schaefers
ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und seit 2010 als freie Literaturdozentin aktiv. In der Erwachsenenbildung bietet sie Vorträge, Kurzworkshops, wöchentliche Seminare sowie Bildungszeiten in der Reihe „Literatur an Ort und Stelle“ an.
Als @textwerkbremen ist sie auf Instagram zu finden. Auch dort teilt sie ihr Wissen über literarische Werke und ihre Begeisterung für Gegenwartstexte. Ob analog oder digital: Literatur wird für Stephanie Schaefers im direkten Austausch mit anderen Literaturinteressierten lebendig.
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