Dmitrij Kapitelman arbeitet als Journalist und Schriftsteller. Er kam 1986 in Kiew zur Welt und als sogenannter jüdischer Kontingentflüchtling 1994 nach Deutschland. Im Interview hat er mit uns über den Krieg in seinem Heimatland gesprochen.
Herr Kapitelman, in den letzten Tagen sind wir alle fassungslos angesichts der Nachrichten aus der Ukraine. Sie sind ein Mann der Worte, finden Sie in diesen Tagen noch welche?
Na ja, die richtigen Worte sind eigentlich lächerlich schnell gefunden: Hört auf, ihr Wahnsinnigen! Hört einfach mit dieser barbarischen Mörderscheiße auf!
Leider reicht das bekanntlich nicht.
Ich schreibe und appelliere auch in dieser Zeit. Das hilft gegen das Gefühl, ohnmächtig zu sein. Und etwas viel Sinnvolleres kann ich wohl kaum mit mir selbst anfangen. Manchmal kommen allerdings krasse Schübe der Verzweiflung und ich denke: Wozu das ganze Getue und Gedenke, wenn alle paar Dekaden so ein wahnsinniger Egomane an die Macht kommt und alles anzündet?
Was hören Sie aus der Ukraine, wie geht es Ihrer Familie und Ihren Freunden vor Ort?
Leider nichts Gutes. Manche harren in Bombenbunkern aus. Andere fliehen ins Ausland. Ein Freund hat sich als Freiwilliger in die Armee eingeschrieben. Er ist Informatiker und hat im Leben keine Waffe in den Händen gehalten. Und wollte das auch nie tun. Ein anderer bringt seiner 14-jährigen Tochter im Garten bei, wie man schießt. Alle sagen, dass dieser Krieg ein unfassbarer Albtraum ist.
Können Sie schon einschätzen, was der Krieg für die Situation von Künstler*innen und Schriftsteller*innen in der Ukraine bedeuten wird?
Sie könnten schlichtweg sterben. Oder aber geliebte Menschen verlieren, sodass etwas in ihnen stirbt. Im Moment ist nicht ausgeschlossen, dass Putin das ganze Land zerstört. Auf die Künstler*innen kommt sehr wahrscheinlich eine unglaublich schwere Zeit zu. Und doch ist ihre Arbeit gerade in dieser Ära so unglaublich wichtig. (Notiz an mich selbst, für den nächsten Verzweiflungsschub.) Auch das größte Gräuel muss dokumentiert und kulturell gebrochen werden, damit es in besseren Zeiten nicht in Vergessenheit, schlimmer noch Verleugnung gerät.
Was können wir dem Grauen jetzt entgegensetzen?
Man kann spenden, man kann demonstrieren, solidarisch sein. Wichtig: Und zwar nicht nur in dieser ersten Stunde der fast euphorischen Hilfsbereitschaft, in der dunkelsten Stunde. Sondern auch wenn es anstrengend wird, wenn die Rechten irgendwann anfangen, auch aus diesen neuen Migranten Profit zu schlagen und zu hetzen. Wenn es kompliziert und sogar etwas langweilig wird, weil wir uns auch an diese Katastrophe gewöhnt haben. Behördengänge anstehen und Traumata und Heimweh die Geflüchteten etwas unzugänglicher machen als am Tag eins der Flucht. Das schreibe ich übrigens auch als Mahnung an mich selbst.
Dmitrij Kapitelman
ist Journalist und Schriftsteller. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. 2016 erschien sein Debütroman Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters bei Hanser Berlin. 2021 folgte Eine Formalie in Kiew. Kapitelmans Reportagen und Essays fokussieren oft Fragen des staatlichen und gesellschaftlichem Umgangs mit Rechtsextremismus und Migrationspolitik.
Dmitrij Kapitelman erhält 2022 das Stipendium Tapetenwechsel, das vom Literaturhaus Bremen und anderen vergeben wird.